veranlaßt hat, dann haben wir es hier mit einem konkreten Exempel des von Greg abstrakt beschriebenen Modells zu tun. In der Tat treffen die von ihm beschriebenen Vorgänge bei der handschriftlichen oder technischen Reproduktion eines Textes auch auf deutschsprachige Werke zu, und nicht nur auf solche, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gedruckt worden sind. 1 ’ 9
Was nun die Anwendung seiner Theorie auf die editorische Praxis angeht, so schlägt Greg folgendes Verfahren vor: Der Herausgeber sollte sich in jedem Falle von Varianz fragen, .(1.) ob die ursprüngliche Lesart vernünftigerweise dem Autor zugeschrieben werden kann und ob man (2.) vernünftigerweise annehmen kann, daß der Autor die frühere Lesart durch die spätere ersetzt hat. Wenn die Antwort auf die erste Frage negativ ist, dann sollte man die spätere Lesart als eine zumindest mögliche autorisierte Korrektur gelten lassen (natürlich nur dann, wenn sie ihrerseits nicht unglaubhaft ist). Ist die Antwort auf (1.) positiv und die auf (2.) negativ, dann sollte die originale Lesart beibehalten werden. Wenn die Antworten auf beide Fragen positiv sind, dann sollte man voraussetzen, daß die spätere Lesart auf der' Revision beruht, und sie sollte in den Text aufgenommen werden, gleichgültig ob der Herausgeber dies für eine Verbesserung hält oder nicht." 70 Indem'dieses Verfahren auf die Restituierung der Autorintention zielt, sind die Entscheidungen in starkem Maße subjektiv (was Greg ausdrücklich einräumt); es kommt jener im Prinzip überwundenen Intuitionsphilologie 71 nahe, die Textkritik als Synthese von Wissenschaft und Kunst begreift 72 .
Schließlich schreibt Greg, er sehe keinen Grund, warum der Herausgeber einer kritischen Edition „mißverständliche oder ungewöhnliche Schreibungen" nicht ändern soll, wenn sie nach seiner Überzeugung nicht vom Autor stammen, sondern vom Schreiber oder vom Setzer; und wenn die Interpunktion „ständig falsch oder unvollkommen" ist, soll er sie lieber ganz und gar aufgeben, um den Weg für eine von ihm festzulegende frei zu machen. Er, Greg, halte eine kritische Ausgabe nicht für den geeigneten Ort, „die graphischen Besonderheiten einzelner Texte zu registrieren". 73 Gregs Text-Begriff unterscheidet sich also fundamental von dem, der heute in der germanistischen Editorik vorherrscht. Andererseits entspricht er aber dem des sowjetischen Textologen Dmitri S. Lichatschew, nach dessen Definition alles, was „zu den Formen der Graphik" gehört „oder was als Resultat zufälliger Schreibfehler erscheint, zufälliger Auslassungen des Abschreibers oder zufälliger Wiederholungen des Textes oder zufälliger Einschübe", nicht zu den „Eigentümlichkeiten des Textes" gerechnet werden darf, „sondern nur der Abschrift, der Handschrift". 74
Gregs Editionslehre läuft also, wie auch Bowers verdeutlichend erklärt hat, auf ein Verfahren hinaus, bei dem „ein eklektischer Text konstruiert werden muß, in welchem die höhere Autorität der meisten Wörter in der revidierten Auflage mit der höheren Autorität der Wortformen in der ersten Auflage" kombiniert wird. 75 — Der „eklektische Herausgeber' jedoch, „der Varianten verschiedener Fassungen kontaminiert, indem er sie in seinen Basistext einträgt, verhält sich nicht wie ein Herausgeber, sondern wie ein Autor" — genauer gesagt: wie ein redactor post mortem auctoris —, „indem er eine neue Fassung herstellt". 70
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