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Der prinzipielle Unterschied zwischen germanistischer und anglistischer Editionstheorie hinsichtlich der Textkonstituierung resultiert, wie mir scheint, aus der Verschiedenartigkeit ihrer jeweiligen literaturtheoretischen Prämissen. Indem die moderne germanistische Editorik der Überlieferung grundsätzlich einen höheren Stellenwert zuerkennt als der Autorisation (sofern diese nicht mit absoluter Sicherheit feststeht), behandelt sie das literarische Werk ausschließlich als ein historisches Dokument. In der neueren anglistischen Editionslehre dagegen fungiert das literarische Werk als ästhetisches Gebilde, als Produkt der schöpferischen Arbeit seines Autors, unverwechselbar und unwiederholbar in seiner sprachlich-künstlerischen Struktur, trotz all der Veränderungen, die es im Laufe seiner Entstehung und oft auch noch nach der ersten Veröffentlichung erfahren hat. Die Idealvorstellung einer derart ästhetisch orientierten Editionsphilologie müßte es sein, einerseits den Schaffensprozeß des Künstlers exakt und detailliert mittels Dokumentation darzustellen und damit nachvollziehbar zu machen, andererseits dem Rezipienten eine nicht überfremdete, unverformte Textfassung zur Verfügung zu stellen, wie sie vom Autor auf einer bestimmten Stufe des Entstehungsprozesses intendiert war, jedoch niemals auf einem einzigen Überlieferungsträger fixiert worden ist. Die erste Forderung, Dokumentation des Schaffensprozesses, ist meines Wissens nie ernsthaft erhoben worden; denn nur ein Bruchteil der Textgenese hat seinen Niederschlag auf dem Papier (oder auf einem Tonträger) gefunden, und was davon an Zeugen und Zeugnissen auf die Nachwelt gekommen ist, läßt nur in den seltensten Fällen — und auch dann nur partiell — eine Abbildung dessen zu, was einst den schriftlich fixierten Teil des Schaffensprozesses ausgemacht hat. Bei Fontane ist die Situation insofern noch einigermaßen günstig, als er zu den Autoren gehört, die ein Werk von Stufe zu Stufe weitgehend mit dem Stift oder mit der Feder — also nicht nur im Kopf — entstehen lassen und von denen, trotz schmerzlicher Verluste, wenigstens Fragmente von Niederschriften aus den verschiedensten Phasen der Werkent- stehung überliefert sind.
Folgt aber daraus mit Notwendigkeit, daß auch das vollendete Werk nur in einer Textgestalt dargeboten werden darf, die sich durch „historische Faktizität" legitimiert? Im Falle einer historisch-kritischen Ausgabe spricht in der Tat vieles für ein solches Verfahren, weil hier der edierte Text weniger die Funktion einer Rezeptionsvorgabe für irgendeinen Leser hat, sondern das Bezugsfeld bildet zur Veranschaulichung der im Apparat verschlüsselt ver- zeichneten Textgenese - ein notwendiges Übel eigentlich, auf das man bequem verzichten könnte, wären die Entstehung und die Geschichte des Textes ausreichend durch Zeugen belegt und ließe sich die absolute Variantenchronologie mit Sicherheit ausmachen. An die Stelle von Text und Variantenverzeichnis(sen) träte der durchgehend genetisch angelegte Apparat 77 — für den dann freilich diese Bezeichnung recht eigentlich nicht mehr zuträfe. Welche Fassung den zu edierenden Text zu bilden habe: diese Frage kann relativ unabhängig sowohl von deren spezifischer ästhetischer Qualität wie von ihrem Stellenwert innerhalb der Entstehungsgeschichte des Werkes entschieden werden. Die letzte autorisierte Fassung — der nach einem nahezu allgemeinen Konsens der
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