Heft 
(1987) 44
Seite
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Editionswissenschaftler heute nicht mehr a limine eine Sonderstellung ein­geräumt wird bietet dabei den Vorteil, daß sich die gesamte Textgenese und Textgeschichte nach einer einheitlichen Methode retrospektiv darstellen läßt, während bei der Entscheidung für den Erstdruck oder für dessen Satz­vorlage (sofern sie lückenlos überliefert ist) oder eine andere Ausgabefrüher Hand" die Varianten zum Teil retrospektiv, zum Teil prospektiv verzeichnet werden müssen, so daß die Anlage des Apparats komplizierter, weil viel­fältiger wird.

Das zweite Verfahren ist allerdings dann zweckmäßig, wenn einerseits relativ zahlreiche genetische Zeugen bekannt sind, andererseits in den Druckfassungen nur hin und wieder einzelne Wörter, Satzteile oder Sätze vom Autor geändert wurden, so daß die Varianten weniger im Hinblick auf den genetischen Zu­sammenhang als für die Veränderung einzelner Werkstellen von Interesse sind und demgemäß auch mit Hilfe eines Werkstellenapparates dokumentiert werden können. Dieser Fall trifft auf Fontanes Romane und Erzählungen aus­nahmslos zu es sei denn, man betrachtet den verstümmelten, ohne die Mit­wirkung des Verfassers zustande gekommenen, aber von ihm gebilligten Vorabdruck desQuitt"-Romans in derGartenlaube als eine mitteilenswerte Fassung; dann wäre jedoch deren vollständiger Abdruck neben der Buchaus­gabe (eventuell im Spaltensatz oder auf zwei gegenüberstehenden Buchseiten) vorzuziehen.

Anders stellen sich die Fragen für den Herausgeber einer (anspruchsvollen) Leseausgabe oder einer Studienausgabe, von Editionsformen also, wie sie in weit größerer Zahl hergestellt werden und in wesentlich höheren Auflagen verbreitet sipd als historisch-kritische Werkausgaben und die darum nicht selten auch die Grundlagen bilden für die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Autor. Die Mindestanforderung, die man billigerweise an solche Editionen stellt, ist die nach einem geprüften, zitierbaren Text mit den nötigen Informationen über dessen Herkunft oder Konstituierung. Ein Leser, für den der Text nichts anderes ist und auch nichts anderes zu sein braucht als die Vorgabe für die individuelle Aneignung des jeweiligen Werkes, wird wenig Verständnis für die Argumentation aufbringen, daß Überlieferung in jedem Falle vor Autorisation zu gehen habe; doch auch der Benutzer einer Studien­ausgabe wird sich kaum mit dem Hinweis aufhistorische Faktizität" begnü­gen, wenn er nicht erfährt, in welcher Weise der Überfremdungsprozeß vonstatten gegangen ist und welche Deformationen das Werk im Verlauf seiner technischen Produktion und Reproduktion im einzelnen erfahren hat. Doch eben solche Informationen vermag eine Studienausgabe konkret und detailliert günstigstenfalls anhand kleiner Textsegmente zu bieten. Hier kann meines Erachtens die Methode von Greg und Bowers der germanistischen Editions­kunde und Editionspraxis wertvolle Anregungen und fruchtbare Impulse geben. Das heißt nicht, daß ihrer pauschalen, kritik- und bedenkenlosen Über­tragung auf deutschsprachige Literatur das Wort geredet werden soll.

Von zentraler Bedeutung in .Gregs Theorie ist die Differenzierung der Varian­tenarten, ihre Trennung in zwei Kategorien von unterschiedlicher Wertigkeit für die Qualität des Textes. Bei der Übertragung auf deutschsprachige Lite­ratur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedarf der Begriffaccidental reading" oderaccidental variant", bedingt durch die größere Variabilität

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