einzelner deutscher Wortformen (auch in der Schriftsprache), der Modifizierung. Für Greg und Bowers sind „accidentals" theoretisch Differenzen in den Wortformen, praktisch fast ausschließlich „Augenvarianten" 79 , Differenzen also, die allein die Schreibung betreffen und beim Sprechen nicht wahrgenommen werden. Im Deutschen müßten den „accidentals" auch Synkopen und Apokopen (bzw. deren Aufhebung) zugerechnet werden sowie Unterschiede im Lautstand (Hülfe — Hilfe u. ä.). Antiquierte oder (den Sprachstil bewußt) antiquierende Formen, wie sie z. B. in Storms Chroniknovellen begegnen oder bei Raabe häufig zu finden sind, gehören ebenfalls hierher; sie spielen jedoch bei Fontane so gut wie keine Rolle. Die zu den „Lautvarianten" zählenden „accidentals" sind wiederum von unterschiedlichem Gewicht. Denn ob es Reiter oder Reuter, verdrießlich oder verdrüßlich, ergötzen oder ergetzen, fünfzig oder fünfzig, Tinte oder Dinte heißt, hat zumeist sprachhistorische oder sprachgeographische Ursachen, während Synkopierungen und Apokopierungen allein dem Stilwillen des Autors zugerechnet werden müssen, sei es, daß er die Sprechweise einer Person damit charakterisieren will, sei es aus sprachrhythmischen oder sprach- melodischen Gründen 80 oder um einen Hiatus zu vermeiden.
Hinsichtlich der Behandlung von Orthographie und Interpunktion gibt es in der anglistischen Editionsphilologie keinen einheitlichen Standpunkt. Während zum Beispiel R. C. Bald vor allem die Bedürfnisse des Lesers („the reader's convenience") berücksichtigt wissen möchte und die Entscheidung „letzten Endes" dem Geschmack und dem Urteil des Herausgebers überläßt 81 , ist Bowers entschieden gegen jegliche Modernisierung bei der Herausgabe von Werken amerikanischer Autoren des 19. Jahrhunderts 82 ,- Greg scheint dieser Frage keine vorrangige Bedeutung beizumessen 83 . Bei germanistischen Editionstheoretikern und Editoren macht sich in zunehmendem Maße eine Tendenz zur Bewahrung der historischen Orthographie bemerkbar, im Extrem- ~ fall sogar verbunden mit der „Forderung der Textologie an die belletristischen Verlage", klassische Autoren in der „originalen Orthographie" herauszugeben 84 , weil auch eine behutsame Modernisierung die Texte „in ihrer Substanz zerstören" könne 85 . Dabei wird weder das Problem der Doppelautorisierung noch das der Textüberfremdung ernsthaft diskutiert, noch wird die Frage gestellt, inwieweit und ob überhaupt rein graphische Varianten den Text eines literarischen Werkes betreffen, d. h. ob bloße Augenvarianten eine andere Fassung konstituieren.
Wenn ein Herausgeber den Graphemen keine den Text (im editionsphilologischen Sinne) betreffende Qualität zuerkennt, wird er sich bei dessen Darbietung anders verhalten als einer, der die phonetisch, semantisch und stilistisch gänzlich irrelevante, oft genug vom Setzer und nicht vom Autor stammende Schreibung einzelner Wörter für unantastbar, weil „historisch" legitimiert, hält. „Die Qualität der Textwiedergabe bemißt sich nach dem Respekt gegenüber dem Überlieferten." 80 Einer solchen (allgemeinen) Maxime wird niemand widersprechen wollen, vorausgesetzt, er weiß, was mit dem „Überlieferten" eigentlich gemeint ist: ein sprachliches Kunstwerk aus dem lebendigen Erbe unserer Nationalliteratur? oder die Deformierungen, die es bei seiner technischen Reproduktion erfahren hat? Wer seinen „Respekt gegenüber dem Überlieferten" bis in diesen Bereich ausdehnt, müßte konsequenterweise auch die Imitation der Druckschrift, des Schriftgrades und des
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