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Deutschland.
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mit der Zeit fortgeschritten zu sein, wenn er mit dem Worte „Vererbung" ein wenig spielt und dem alten Novellenkostüm seiner Helden so ein paar neue Flicken einfügt. Es ist charakteristisch für Frenzel, daß es ein orthodoxer Pastor ist, dein die Anmerkungen Frenzels über Vererbung in den Mund gelegt werden.
Ebenso verhalt es sich mit Titel und Tendenz „der Novelle. Das Wort „Wahrheit" brauchte weder die Überschrift zu bilden, noch irgendwo an den Haaren herbeigezogen werden, und doch könnte der echt moderne Kampf gegen die Lüge die innere Handlung der Novelle sein. Frenzel hat aber bloß nach alter Frauenart einer verwickelten Liebesgeschichte einen hochtrabenden Namen gegeben. Der Inhalt würde, mit trockenen Worten nacherzühlt, das ganze Schimpflexikon des Kritikers Frenzel herausfordern; Ehebruch, heimliche Geburt und so etwas wie Kindesmord bilden die Vorgeschichte; aber der säuberliche Dichter führt uns mit honigsüßen Worten über alles Peinliche hinweg zu den seligen Gefilden, wo Männlein und Weiblein in weißen Kleidern sich einer hochgebildeten Langeweile hingeben.
Die Hauptfabel erzählt uns, daß der Pastor Wahrmund — der Arzt heißt Helfreich und der Ort der Handlung Hütte danach mindestens Nirgendsheim heißen müssen — berechtigte Zweifel hegte, ob sein einziges Kind, eine erwachsene Tochter, auch wirklich sein Kind sei. Auch die Neugier des Lesers wird eine Weile lang mit der Frage wach erhalten, wer die Väter der vor Beginn der Novelle geborenen Kinder wären. Mitten in der Erzählung aber, bevor noch unsere Neugier den erwünschten Grad der Spannung erreicht hat, werden mit Hilfe von Medaillons und Schreibtischen mit verborgenen Fächern, von Geister sehenden Grafen und treuen, alten Dienern — es ist das ganze Roman-Arsenal des achtzehnten Jahrhunderts — die Geheimnisse aufgedeckt. Ja, das Pfarrerstöchterlein ist die Tochter des Grafen, der Pastor wird vom Schlage getroffen, die Verlobung wird rückgängig gemacht, ob aber nach der schicklichen Trailerzeit das getrennte Brautpaar sich nicht wiederfinden werde, darüber giebt der böse Autor ganz im Stile der Marlittschen Romanschlüsse nur leise Andeutungen. Ans die Braut hatte sich der Haß ihres Vaters gegen den Grafen geheimnisvoll vererbt. (Da der Graf ihr wirklicher Vater war, so gehört diese Vererbung zu den merkwürdigsten und darum auch zühlenswertesten Naturspielen.- In dieser Stimmung will sie unmittelbar vor dem Ende der Novelle nichts entscheiden. Darauf spricht in der schönen Sprache schöner Seelen und mit dem ganzen Aufwand abstrakter Worte, welche die höhere Töchterbildung liebt, der Bräutigam:
„Vielleicht liegt in dieser Gleichheit des Empfindens die Bürgschaft für unsere Zusammengehörigkeit."
„Vielleicht! ... auf eine glücklichere Stunde."
Die angeführten Worte geben eine gute Probe von dem dichterischen Stile Frenzels. So spricht man nicht, und so hat man nie gesprochen; so schreibt man nicht, aber so hat Karoline von Wolzogen geschrieben, in deren gezierten Redensarten einst geschmacklose Leser den Stil Goethes wiederznfinden glaubten.
Aber die Probe kann doch keine richtige Vorstellung geben von der Hilflosigkeit des Autors, wenn derselbe seine verschiedenen Menschen durch die Sprache charakterisieren will. Ob der Graf spricht oder der Pastor oder das Dienstmädchen, immer hört man Carl Frenzel; und da das Ganze eine sogenannte „Jcherzühlung" ist, der Held aber, der seine Erlebnisse niederschreibt, ein kleiner Commis, so spricht auch dieser wie Carl Frenzel: recht gebildet, recht fließend, sehr geschwätzig, aber niemals charakteristisch, niemals mit der Anschauung eines Dichters.
Kleine Kritik.
Die Berliner „Freie Bühne" hat am letzten Sonntage mit der Aufführung von Anzengrubers Bolksstück „Das vierte Gebot" einen großen Erfolg erreicht, dessen Wirkungen weit über den Kampf um die Bedeutung dieses Vereins hinausgehen werden. Das Stück, welches nur von der Eensur beachtet worden war, den Theaterleitern aber trotz dem nicht gefiel, hat in ganz ungeheurer Steigerung zuerst wie eine alte gute Wiener Posse unterhalten und dann zum Schluß wie eine Tragödie von Shakespeare erschüttert. Was die Censnr daran auszusetzen fand, war natürlich der Stoff, eine einfache Fabel, welche das vierte Gebot nicht angreift, wohl aber die Pflichten der Eltern gegen ihre Kinder voranstelkt. Schlicht wie eine Kindergeschichte ist das Schicksal der Drechslerfamilie- aber als der verzogene Sohn der schlechten Leute am Ende zum Tode - geführt wird und noch im Sterben seine Eltern verdammt, seine gute Großmutter dagegen um ihren Segen bittet, da ging eine Bewegung durch das Publikum, wie sie so stark und nachhaltig seit vielen Jahren nicht erlebt worden ist.
Das Bühnentalent Anzengrubers brauchte nicht erst entdeckt zu werden; der Dichter, der dieser Aufführung persönlich beizuwohnen gedachte, ist tot. Um so unbefangener kann es ausgesprochen werden, daß die Technik dieses Stückes durchaus nicht auf der Höhe des „Meineidbauers" oder der „Kreuzelschreiber" steht. Die Einführung der Personen und viele Übergänge sind völlig veralteter Theaterstil - die Genialität des Dichters zeigt sich aber in der Charakteristik dieser Personen und in der überwältigenden Kraft der großen Seenen. Wie der zum Tode Verurteilte erst seine ganze Todesangst offenbart und dann die erschreckte Großmutter mit einer unerhörten Galgenlustigkeit tröstet, das hat seines ^ gleichen nicht in der modernen dramatischen Litteratnr.
Neben dem Poetischen und Dramatischen wirkte auf die Zuhörer nicht zum mindesten die freie Tendenz des Stückes. Anzengruber ist in geistiger Hinsicht wesentlich ein Skeptiker zu nennen. Er begnügte sich niemals mit der Antwort, welche andere Leute zu geben hatten, er fragte jedesmal selbst nach einem Warum, auch da, wo das Fragen überflüssig scheint. Kein Dogma war vor seiner Skeptik sicher. Sein herrlicher Sieg auf der „Freien Bühne" wird auch das Dogma vom allein selig machen den Naturalismus in Frage stellen. Der echte Dichter hat nach deren Programm gegen die Konvention gesiegt; dem Naturalismus, mit welchem man die ganze neue Richtung identifizieren will, kommt „Das vierte Gebot" nicht zu Hilfe. t'»,.
Die tolle Komteß. Roman von Ernst von Wolzogen. (Stuttgart, Verlag von I. Engelhorn, 1889.)
Als beim jüngsten Fontanefest der Kampf um die Zugehörigkeit des Jubilars entbrannte, und alte Herren den Dichter für ihre alte Schule in Anspruch nahmen, da reklamierte Ernst von Wolzogen den Dichter von „Irrungen, Wirrungen" im Namen der Jungen. Er hatte ein Recht dazu. Wolzogen ist einer der wenigen unter dem jungen Geschlechts, der mit dem klarsten Blick für modernes Leben eine reine Knnst- form und eigenen Humor verbindet. Er hat schon kleine Meisterstücke eines Humors geliefert, der die echte geistige Überlegenheit über die Anschauungen des Tages bewies. Sein Roman „Die tolle Komteß" ist in Bezug auf Humor und Charakterzeichnung feinen kleinen Skizzen ebenbürtig; aber die verwickelte Handlung führt weit hinweg von den Idealen der modernen Kunst. Die abenteuerlichsten Voraussetzungen stellen eine äußerliche Spannung her, eine dreifache Bigamie-Geschichte schürzt und löst den Knoten. Um so erfreulicher ist, wie gesagt, die Charakterzeichnung; köstlich vor allem die Figur der ebenso bigotten wie lebens- klngen Gräfin, in welcher vielleicht zum erstenmal eine Scheinheilige ohne den alten Apparat geschildert wird. Der Standpunkt Ernst von Wvl- zogens — der übermütig genug ist, seine berühmte Verwandte Karoline im Zusammenhangs des Romans zu erwähnen — ist ein modern aristokratischer; der Dichter will den norddeutschen Adel in einer Reihe solcher Romane schildern. Er wäre dazu berufen wie wenige; aber er muß darauf verzichten lernen, auf den Rittergütern Pommerns und Mecklenburgs Romane im Stile von Gerstäcker spielen zu lassen. Im einfachen Stimmungsbilde — das dann so groß werden kann wie bei Fritz Reuter — liegt seine Kraft. -r.
Verantwortlicher Redakteur: Fritz Mauthner in Berlin Frobenstraße 33. — Druck und Verlag von Carl Flemming in Glogau.