Heft 
(1889) 29
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Deutschland.

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da liegt. Der Schillersche Wallenstein ist ein ganz isolierter Mensch, der seine gesamte Umgebung tief unter sich sieht und gleichsam über sie hin­weg spricht und handelt. Er läßt sich gern von außen drängen, aber er macht doch alles mit sich allein ab. Er denkt und redet fast nur in Monologen. Er ist beständig in innerer Arbeit. Er hört, aber er sieht nicht. Nur aus einem mhstisch gesteigerten Innenleben heraus ist dieser Charakter zu begreifen. Dieses Centrum fehlte bei Barnah vollständig. Wenn man den Künstler bereits zwei Minuten vorher um einen Tisch herum und der Wand entlang mit gemessenen Schritten nach einem mondscheinbeschienenen Fenster hinwandeln und sich im entscheidenden Augenblick in effektvolle Beleuchtung hinstellen sieht, so muß diese durch­sichtige schauspielerische Absichtlichkeit jeden reinen künstlerischen Eindruck töten. * § *

Der Verehrer Shakespeares wird, wenn er zugleich ein Freund von Rätselraten ist, alle paar Jahre einmal denSturm" lesen und über die Verbindung von Greisenweisheit, Jünglingsfeuer und Kindes­stammeln staunen. Auf die moderne Bühne geschleppt, wird der Sturm aber niemals einen ehrlichen Erfolg haben, weil die Handlung kein Interesse erweckt und die Phantastik, welche an die Stelle treten könnte, nicht so reich und nicht so lustig strömt, wie etwa in demSommer­nachtstraum." In Berlin hat das Königliche Schauspielhaus dadurch Verzeihung für seine litterarischen Sünden finden wollen, daß es auf unsägliche Trivialitäten eine dramaturgische Schrulle, auf Loui den Sturm folgen ließ, allerdings nicht das Werk des Dichters, sondern eine Zauber- komödic von Shakespeare, Schlegel, Taubert, Graeb und Hartwig. Kostüme aus dem zwölften Jahrhundert, eine Dichtung aus dem sieben­zehnten, ein Ballet aus dem achtzehnten und Theaterdekorationen aus unserem Jahrhundert. Dazu eine vorlaute Musik ohne individuellen Charakter. Von den Herrschaften, welche sich zu dieser Komödie ver­einigt hatten, wurde nur der Tanzmeister lebhaft gerufen. Das Aus­stattungsstück hätte ohne den Shakespeareschen Text vielleicht einen großen Erfolg gehabt, wie etwa das BalletStanley" im Victoria-Theater. Litterarhistoriker mögen übrigens entscheiden, ob sich Shakespeare zu sei­nem Sturm nicht durch ein ähnliches Entdeckungsfieber anregen ließ wie Mvszkowski und Nathanson zu ihrem Stanley in Afrika.r.

Ein gelungener Scherz Paul Lindaus hat die Aufmerksamkeit neuerdings auf den Gerichtssaaldichter Oskar Thiele gelenkt, dessen Name in Berlin ebenso unbekannt war lvie im übrigen Deutschland, dessen lustige Berichte über Gerichtsverhandlungen jedoch sehr häufig die Runde durch die gesamte deutsche Presse machten. Dem Verfasser dieser Berliner Bolksbilder soll nun hier weder Talent noch Humor abge­sprochen werden. Wenn auch manche Redensarten der Angeklagten (wie z. B. Herr Gerichtshof) vollkommen zur Schablone geworden sind, so ist dafür die urberlinische Redeweise immer vorzüglich getroffen; ich würde diese kleinen Skizzen in einem Witzblatte oder im belletristischen Feuilleton, jedesmal mit Vergnügen lesen. Anders wird die Sache, wenn man nach der juristischen und moralischen Berechtigung des Ver­fassers fragt, der über wirklich vvrgekvmmene Gerichtsfälle zu berichten hat und den Lesern dafür heitere Dialektstudien anftischt. In juristischer Beziehung hat der einfachste Einbrecher, sowie die geschwätzigste Markt fran das gute Recht, sich jede zum Zwecke des Spaßes erfundene Schil­derung ihrer Personen ernstlich zu verbitten. Die Öffentlichkeit des Ge­richtsverfahrens wurde um sehr gewichtiger Gründe willen eingeführt; es ist ein Mißbrauch, wenn sie hauptsächlich zur Belustigung des Pu­blikums dienen soll. Aber auch iu rein moralischer Beziehung ist die scherzhafte Behandlung von Gerichtsverhandlungen im höchsten Grade unstatthaft. Jeder Fall, in welchem so ein drolliger Neuling des Kri- minalgerichts auch nur zu einem Thaler Buße oder zu einein Tage Haft verurteilt wird, kann im Leben des Angeklagten eine furchtbare Kata­strophe sein. Auf der Anklagebank werden gewöhnlich keine Witze ge­rissen, man hört von dort her fast immer nur ein unterdrücktes Schluch­zen. Und so ist bei aller Echtheit des Dialekts diese ganze lustige Be­richterstattung doch eine Fälschung der Wahrheit, und in den sozialen Kämpfen der Gegenwart sollte die tausendfältige Not, welche im Ge­richtssaal vorüberzieht, nicht ein vergnügliches Schauspiel für die große Menge derer sein, die noch nicht angeklagt sind. Oskar Thiele ist viel­leicht ein guter Dichter; ein guter Berichterstatter ist er nicht.r.

Unsühnbar. Erzählung von Marie von Ebner-Eschen buch. Zwei Teile in einem Bande. (Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel 1890).

Die herrliche Ebner Eschenbach hat zum erstenmal ein Werk cks lonKus lmwirio geschrieben; und der Stoff, den sie gefunden, war wohl für die große Romanform geeignet. Der Schauplatz der Handlung ist natürlich wieder abwechselnd in Wien und auf den Schlössern und in Dörfern des hohen österreichischen Adels. Maria, die Tochter eines mächtigen Grafen und Ministers ist ein gehorsames Kind, verzichtet auf den Schwerenöter Tessin, für den sie geschwärmt hat und heiratet den Magnaten Dörnach, die beste Partie des Landes, ohne Liebe, aber mit ausreichender Achtung. Nachdem sie dem wackern Gatten einen Stammhalter geschenkt hat, kommt über sie eine dämonische Stunde, iu welcher sie sich von Tessin besiegen läßt. Ihre Schuld scheint ihr rin sühnbar, besonders da bald auf dem Schlosse ein zweiter falscher Dor nach atmet. Sie haßt ihren Verführer Tessin, sie liebt sein Kind nicht, sie lebt nur noch für die Armen und für ihren Mann, irr dessen Vor züge sie sich zu verlieben anfängt. Es scheint, daß Maria sich mit Hilfe von unaufhörlichen Gewissensbissen allmählig mit ihrer Schuld absurden würde; da wird ihr Leben durch einen unglücklichen Zufall gestört. Der kleine Stammhalter, Dörnachs echter Sohn, fällt ins Wasser, Dörnach springt ihm nach, und Vater und Kind ertrinken. Maria, welche bisher auch aus Rücksicht auf Dörnachs Lebensglück geschwiegen hat, kann den Gedanken nicht ertragen, daß Tessins Söhnchen unrechtmäßig den sürst lichen Besitz erben soll; beider Testamentseröffnung gesteht sie ihre Schuld. Auf eurem verwahrlosten Gute ihres Vaters siecht sie dahin und stirbt. Die Gestalten sind wieder so voll Leben wie immer bei Marie von Ebner Eschenbach. Ein Krautjunker, ein armer Vetter Dörnachs, der am Ende mit seiner guten Frau und seinen unzähligen Kindern das gewaltige Vermögen erbt und als eine Art Fortinbras über die Zukunft beruhigt, ist mit seiner täppischen Güte eine Meisterfignr. Ebenso sind die andern Personen, Aristokraten und Dorfbewohner, mit klaren Dichter äugen geschaut und mit fester Hand wiedergegeben. Nur die schwache Stunde in: Leben der Heldin ist nicht ganz glaubhaft dargestellt. Ob die Dichterin nun an dieser Stelle sich so weit vergaß, der Prüderie Konzessionen zu machen, oder ob sie am Ende den prächtigen Stoff selbst bedenklich fand, jedenfalls wirft sie über das, was Maria dazu trieb, einen undurchdringlichen Schleier. Wenn man die kurze Liebe zwischen ihr und Tessin nicht mit Hypnotismus oder sonst einer Aufhebung der Verantwortlichkeit erklären will, bleibt die That dieser Maria, die die Dichterin schildert, mehr unfaßbar als unsühnbar. Der starke Stoff ist nicht rücksichtslos genug angepackt, die fliegende Leidenschaft überzeugt uns nicht. Da aber der Leser den Fehler durch seine Phantasie leicht gut zu machen vermag, wirkt der zweite Teil des Romans dennoch mit voller Kraft.

Übrigens ist das Buch selbstverständlich wieder voll von fröhlicher Weisheit. Die Wiener Komtessen bekommen wieder köstliche Epigramme ins Gesicht gesagt, wie z. B-:Früher wußte ich genau, ob ich mit einem Fiaker rede oder mit einer Komtesse, jetzt irre ich mich alle Augenblicke." Aber auch die Roheit des niederen Volkes erhält ihre Strafe, so bei der Schilderung einer Hasentreibjagd.Das feigste Tier, das völlig wehrlose, zusammentreiben ans einen Fleck, damit es dort lustig niedergeknallt werde, nachhelsen mit dem Stock, wenn das Gewehr sein Werk nur halb gethan, tot machen so recht nach Herzenslust und noch Geld dafür kriegen, das ist ein Gaudium für den armen Manu, und für sein Kind eine Schule, in der es etwas lernen kann."

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Theater und Kirche. Darstellung ihres geschichtlichen Verhält­nisses mit einem Ausblick in die Zukunft. Von einem Theo­logen. (Bremen, Druck und Verlag von M. Heinsins Nach­folger, 1890.)

Der Verfasser, der viel gelesen zu haben scheint und seine Meinung verständig vorträgt, kommt zu dem nicht mehr ganz neuen Schlüsse, baß der Besuch von Theatern und die Freude an bedeutenden Dramen nicht unsittlich sei. In theologischen Kreisen kann die kleine Schrift nur Gutes wirken; die übrige Menschheit steht dem Theater auch ohne eine solche gründliche Anleitung freundlich genug gegenüber.r.

Verantwortlicher Redakteur: Fritz Mauthner in Berlin Frobcnstraße 33. Druck und Verlag von Carl Flemming in Glogau.