Heft 
(1889) 29
Seite
495
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LtZ 20.

Deutschland.

Seite 495.

Weibe verlassenen Eheleute die Verderbtheit in die Welt brin­gen." Jetzt läßt er den Mörder mit unklarem Tiefsinn aus- rnsen, er hätte seine Gattin erschlagen, noch ehe er sie ken­nen lernte, damals, als er das erste illegitime Liebesver­hältnis einging. Tolstvj nennt mit unerbittlicher Strenge die erste Beziehung zwischen Mann und Weib schon eine Ehe und er verlangt mit starrer Konsequenz unverbrüchliche Treue in dieser ersten Ehe, er verlangt natürliche Monogamie für die ganze Lebenszeit. Um seinen Satz zu beweisen, seeiert er mit feinstem psychologischem Scharfsinn das moderne Eheleben und spricht erschreckliche Wahrheiten über Dinge aus, über welche man sonst nicht spricht. Wie der hinkende Teufel des Lefage deckt er alle Dächer ab, reißt er alle Thüren ans, zieht er alle Vorhänge zurück; während aber Lesage nur die Handlungen der belauschten Menschen sieht, blickt Tolstos in die Seelen hinein.

Posdnyschew ist aber nicht ganz und gar Tolstos oder vielmehr Posdnyschew spricht außer diesen Lehren auch Träu­mereien aus, welche Tolstos vielleicht nicht in eigenem Namen verkünden will. Die schwächste Seite Schopenhauers, der in­dische Quietismus mit seinem Unding von einer Selbstbefrei­ung des unfreien Willens, hat es dem russischen Dichter angethan, und er verlangt so etwas, wie Vernichtung des Menschengeschlechtes durch Askese. Wie die Verteidiger der Todesstrafe ihren Gegnern einst zuriefen, die Herren Mörder möchten doch mit der Abschaffung anfangen, so wird aller­dings die junge Welt in alle Ewigkeit den alten Betbrüdern antworten:Entsagt erst ihr selbst der Welt, wenn ihr wieder einmal jung werden solltet!"

Doch trotz der Unhaltbarkeit dessen, was Tolstos mit dem Enthusiasmus eines alttestamentarischen Sehers in die Welt hinansruft, ist der Eindruck ein starker und tiefer. Und noch eins. Leo Tolstos gehört litternrisch entschieden zu der Schule, welche man aus Verlegenheitdie neue Richtung" zu nennen pflegt und welche ich' die Schule des litterarischen Cynis- mns zu taufen versucht habe. Gegen die neuen Führer sind Philister und Mucker immer mit dem Vorwurfe der Unsittlich­keit bei der Hand. Es ist die alte Erfahrung, welche man bei Wilden und Kindern bestätigt findet, die von ihren Ärzten oder Medizinmännern glauben, diese erzeugten die Krankheiten. So rufen die Freuzel und ihre frommen Genosftn jedesmal, wenn von einem hervorragenden Manne der Finger in die Wunde der Moral gelegt wird, Zeter und behaupten, der Arzt habe die Moral verletzt. Es ist vielleicht gut, daß man auf Tolstos Hinweisen kann, der kein Philister und trotz seines Mystizismus kein Mucker ist, und der dennoch zu Endergeb­nissen kommt, welche mit der Askese der ersten Kirchenheiligen zusammen treffen.

KLeine Kritik.

Man soll den Tag nicht vvr dein Abend und die Saison nicht vor ihrem Ende loben. Da hatten wir neulich hier die Erwartung aus­gesprochen, daß GünthersLoni" das Schlechteste sei, was das König­liche Schauspielhaus in Berlin bringe,: könne, nnd nun hat an, letzten Sonnabend die Leitung dieser Bühne oder wer sonst dort die Ber antwortung für all die überzahlreichen Mißgriffe trägt den Beweis geführt, daß es doch noch etwas Schlechteres giebt, nämlich den unglaub­lich Platten, dabei im innersten Kern verlogenen Schwank von Lothar ElementAnonyme Briefe." Bon den wenigen Erfordernissen, die ein echtes Schauspielhansstück haben muß, erfüllt diese Arbeit nur die eine, die der Langweiligkeit. Aber die zweite, ebenso wichtige Forderung, die dcr Wohlanständigkeit, bleibt unerfüllt ein Student, der seinem Vater, noch dazu einem Landpfarrer, anonyme Briefe schreibt, in denen er sich verleumdet, nur um sich dann desto glänzender verteidigen zu können, das ist so widerwärtig, daß selbst das lammfromme Schauspielhans- Pnblikum trotz der vielerlei alten Knlenderwitze, trotz der behaglichen Tri­

vialität, die sich da auf der Bühne breit machte, nicht zu klatschen wagte. Desto freudiger hat es zwei anderen Einaktern zugesubelt, von denen das eine BulthauptsKopisten" seine Weltfremdheit nicht ungeschickt mit etwas litterarischen, Firnis zu verdecken sucht. Das andere aberGraphologie" von Strahl und Lessing ist eine Schauspielerarbeit im schlimmsten Sinne des Worts. Aus den wohl in ihrem Besitz befindlichen Rollen des Bolz und des Bellmaus haben die Herren sich zwei Redakteure herausgeschrieben, die sich mit zwei grapho logischen Abonnentinnen gleich in, Redaktionszimmer xriinn vista ver loben. Daß in allen drei Stücken auch nicht ein Fünkchen modernen litterarischen Geistes glimmt, ist selbstverständlich, denn sonst wären sie nicht ins Schauspielhaus, der Zufluchtsstätte aller dramatischen Armselig leiten, gekommen. M.

Das Schauspiel von Arno Holz und Johannes Schlaf,die Familie Selicke," ist nun am Ostermontage auf derFreien Bühne" zur Ausführung gekommen, nnd so gestattet die eingehende Würdigung Gustav Landauers einige ergänzende Worte über den Erfolg des Ver­suches, uns ein Interieur für ein Drama auszugeben. Das Stück er regte bei den Gegnern der neuen Richtung den üblichen Sturm der Entrüstung, der diesmal freilich besonders schlecht angebracht war: aber auch die Freunde des Bühnennaturalismus, welche den hundert feinen Beobachtungen der Doppeldichter mit Genuß folgten, werden am Ende das letzte Fallen des Vorhanges als eine Erlösung begrüßt haben. Das Auftreten jeder neuen Person ließ die Hoffnung auf ein Fortschreiten der Handlung neu aufflackern, einige intime humoristische Züge belebten die besseren Zuhörer, aber schließlich schlich immer wieder das Gespenst der Langenweile über die Bretter. Auffallend war in diesem konse guentesten Naturalismus das Fortbleiben jedweder sogenannter Unzüchtig keit. Es ist seltsam: Der Naturalismus Zolas sieht ans allen Höhen und in allen Tiefen nichts als das Walten des Geschlechtslebens, die Doppelnaturalisten Holz und Schlaf sehen es nirgends, und beide glan ben, das Monopol der Naturwahrheit zu besitzen. Was ist Wahrheit? Inzwischen haben sich die gemeinsamen Dichter auch als ein Lyriker ent faltet. Sie sollten das nicht fortsetzen, wenn sie den Spott nicht heraus fordern wollen. Denn es ist in der neuen Richtung ebenso unverständ­lich wie in der alten, daß zwei Menschen zu gleicher Zeit genau dieselbe lyrische Stimmung empfinden, für diese Stimmung in demselben Vorgang ein Symbol erblicken und bei,,, Ausströmen ihres Gefühls das gleiche Reimwort finden können. Die alte Schule ist in vielen Dingen abge than; das aber wird sich wohl kaum so bald ändern, daß der Lyriker nach alter Gewohnheit seine Geliebte besingt. Wenn der Dichter nun aber aus zwei Männern besteht, und dabei wahr bleiben will, so wird er seine Liebesliedchen gleich auf die Mehrzahl abstimmen müssen. Wenn Heinrich Heine z. B. mit Holz oder mit Schlaf gedichtet hätte, so hätten seine Verse ungefähr so lauten müssen:Wir grollen nicht"

oderUns ist als ob wir die Hände aufs Haupt Dir legen sollten" oder Wir Nüssen nicht was soll es bedeuten, daß wir so traurig sind." Den Gedanken, daß sich einmal ein Mann mit einen, Weibe zu gemeinsamer Lyrik verbinden und dann keine Verse an ihn oder an sie mehr verfassen könnten, sondern nur noch an es, den wage ich gar nicht auszudencken.

lni.

Am Karsamstag hat sich Ludwig Barnay dem Berliner Publikum als Wallenstein inWallensteins Tod" nach langen Vorbereitungen ge zeigt und bei der Kritiklosigkeit, die inan einen, beliebten Künstler seiner Art entgegenzubringen pflegt, für seine Leistung Beifall eingeerntet. Eine bestechende Maske und die effektvolle Ausbeutung jeder einzelnen Seene halsen über den Mangel au Einheitlichkeit der Auffassung hinwegtäuschen. Bald- sah man die kalte Entschlossenheit des Fenillet'schenMann von, Eisen," bald einen lauernden Shakespeareschen Antonius, bald einen rührseligen Jsflandschen Hofrat und Familienvater. Für die Einfügung von Zügen der letzteren Art ist vielleicht Otto Ludwig verantwortlich zu machen. Die Wallensteinkritik dieses Dichters ist genial und von pro dnktiver Energie; trotzdem wird einen, Schauspieler anzurateu sein, die selbe beiseite zu lassen und einen Schillerschen Helden lediglich aus Schillerschem Geiste herauszuspielen. Schiller wollte in seinem Wallen­stein einen Realisten mit mystischem Untergrund geben. Nagender Ehr­geiz und rücksichtslose Selbstsucht verbinden sich mit einen, gehein,nis vollen Zaubergeist, als dessen Wurzel der Sterneng lande des Feldherrn