Heft 
(1889) 29
Seite
494
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Seite 404.

Deutschland.

lllZ 20.

Lebenslust genesen. Weg mit Dubais-Reymond, weg mit Darwin, der kein Auge für die Kunst hatte. Die Kunst! Ihr Heil ist in Böcklin und Uhde, das Heil des Lebens aber ist in derKruke mit der Doppel-Strippe." Hüten wir uns vor Frankreich, vor Zola.Warum in die Ferne schweifen?" Eine Frage, wohl wert in ein minder triviales Gewand ge­kleidet zu werden; aber wer hat immer gleich einen Kirchenvater bei der Hand oder einen Tauler oder einen Dichter aus

der Hohenstaufenzeit?

Ein gutes Buch kann von tausend Sachen sprechen, end­lich muß es sa doch mal aufhören. Und was einem Buche recht isch das ist einem Aufsätze billig. So sei denn zum Schluß noch auf unseres Vorbildes und Erziehers politische Gesinnung Hingelviesen. Er wird amtlich und historisch unter zwei Ru­briken geführt, alsSvnnenbruder" und alsEckensteher," aber auf Herz uud Niereu hin geprüft, war er in beiden

Eigenschaften derselbe. Seine Person schwankte zuweilen, nicht sein Charakter. In der Sonne liegend, wenn er überhaupt

lag (und er lag viel), deckte sich seine Lebensform mit der alten

Hohenzollernaar-Devise «n<m soll eecko,» noch bestimmter aber kam seine Gesinnung in seiner zweiten Eigenschaft als Ecken­steher zum Ausdruck. Er staud an der Ecke der Königs- und Neuen Friedrichsstraße, die blauen Blechschilder der Straße dicht über dem eigenen Schilde. Drüben aber stand die Karre, mit der er, seinem eigenen Ausspruche gemäß, einzig und allein seine Earriere gemacht hatte. Denn modernes Strebertum lag ihm fern. Er haßte große Worte, sein Thun war stumm. In seiner Ausdauer an der Eulner-Ecke, war die Treue seiner Gesinnung vorgezeichnet. Er hätte auch an der Klosterstraße, selbst an der Ecke der Heiligengeiststraße stehen können; aber in seiner Loyalität, der auch die Namen etwas bedeuteten, stand er wo er stand, eine Stütze so gut er konnte, so lange seine Kraft reichte, bis er fiel.

Er ist gefallen. Aber nehmen wir ihn wieder aus und wenn nicht ihn, so seine Mission. Er war der berlinischte Mann, der, in eben dieser seiner Eigenschaft, dem angeborenen Gefühle von der Wurstigkeit aller willkürlich gewühlten Kunst- nnd Lebens-Ideale niemals untreu werden konnte. Daß er berufen sein würde, selbst ein solches Ideal zu werden, dieser Gedanke lag ihm fern. Aber um so mehr Grund für uns, ihn zu feieru, ihm zu folgen. Ein jeder zu seiner Fahne. Der eine zu Rembrandt, der andere zu Nante Strümp. Im Dschumm waren beide gleich.

Die Krrutzrrsonste."

Von

I- M.

(o^^ie Kreutzersonate* hat Leo Tolstoj seine neueste Schrift genannt und damit in Rußland, Deutschland und Frank- reich seine Verehrer irre geführt. Wenn man auch nicht erwarten konnte, der Kulturfeind Tolstoj Hütte eine dichterische Paraphrase der gewaltigen Komposition geschrieben, so durfte man doch erwarten, der Mystiker Tolstoj würde irgend welche welterlösende Paragraphen in die aufregenden Melodieen Hin­eingeheimnissen. Damit aber wenigstens die Leser dieser Zeit­schrift nicht mit falschen Vorstellungen an das kleine Buch her- antreten, sei gleich hier verraten, daß es mit seinem Tirel so gut wie gar nichts zu thun habe.

In einem Eisenbahnwagen lernt der Dichter den unglück­lichen Posdnyschew kennen, der dem fremden Mann nach alter und schlechter Schablone ausführlich seine Lebensgeschichte erzählt.

Posdnyschew hat sein Weib ermordet und die Richter

* Mit einer Einleitung von Raphael Löwenfeld. 1890. Berlin, B. Behrs Buchhandlung.

haben ihn freigesprochen, weil sie annahmen, er Hütte in einem Anfall berechtigter Eifersucht mit dem Dolche zugestoßen. So liegt die Sache eigentlich auch unter allen bisher geltenden Gesichtspunkten. Posdnyschew hat nach dem landläufigen Junggeselleuleben aus Verliebtheit ein schönes junges Mädchen geheiratet und hat mit ihr ich weiß nicht wie viel Jahre lang in Güte, Zank und Treue dahingelebt. Zur Eifersucht findet er zum erstenmal Veranlassung, da ein junger, verführe­rischer Künstler sich mit deutlichen unredlichen Absichten der schönen Frau von dreißig Jahren zu nähern sucht. Posdny­schew kehrt nach dem bewährten Novellenrezept unangemeldet und rücksichtslos nm Mitternacht von einer Geschäftsreise zurück, findet den Künstler richtig in seiner Wohnung, wenn auch nur im Speisezimmer, und bringt im ersten Zorn seine Frau um. Das ist der Vorgang, der weder sonderlich gut erfunden ist, noch ungewöhnliche Charaktere vorführt und trotzdem das große Aufsehen rechtfertigt, welches das Buch in seiner Heimat gemacht hat. Nur daß das Werk seine Bedeutung weniger seinen dichterischen, als seinen agitatorischen Vorzügen verdankt. Als Dichter ist Tolstoj hier allein an der Vortragsweise zu erkennen. Anstatt seine Gedanken wirkungslos in logischer Folge zu ent­wickeln, legt er sie dem nervösen Posdnyschew in den Mund, und an dem Schicksal des Mörders nehmen wir doch soviel Anteil, daß wir von ihm auch die absonderlichsten Ansichten aufmerksam anhören. Um es mit einem Worte zu sagen: es sind Rvusfeaus kulturfeindliche Ideale, mit der dramatischen Lebendigkeit Diderots gepredigt.

Für die Eindringlichkeit des Stils giebt die einzige Stelle ein gutes Beispiel, an welcher von Beethovens Kreutzersonate die Rede ist. Die Frau und der Künstler spielen das Duo in Gesellschaft vor. Posdnyschew wird darüber wie verrückt. Kennen Sie das erste Presto? Kennen Sie es? O, ein entsetzliches Ding, diese Sonate! Und gerade dieser Teil! Überhaupt ein entsetzliches Ding, diese Musik! . . . Die Musik zwingt mich, mich selbst, meine wahre Lage zu vergessen, sie versetzt mich in eine fremde Lage; unter dem Eindruck Ihrer Musik glaube ich zu empfinden, was ich in Wirklichkeit nicht empfinde, glaube ich zu begreifen, was ich nicht begreife, glaube ich zu können, was ich nicht kann.... Beethoven hat doch gewußt, warum er sich in solcher Stimmung befand; diese Stimmung hatte für ihn bestimmte Handlungen zur Folge, und darum hatte die Stimmung für ihn einen Sinn für mich hat sie keinen. Daher ist die Musik nur erregend, aber sie führt zu keinem Ergebnis. Ein Kriegsmarsch zum Beispiel; die Soldaten marschieren danach, und die Musik hat ein Er­gebnis; ein Tanz, ich tanze, die Musik hat ein Ergebnis; die Messe in der Kirche, ich nehme das Abendmahl, auch hier hat die Musik ein Ergebnis- dort aber nichts als Er­

regung, eine Handlung ist bei dieser Erregung nicht. Darum ist die Musik so furchtbar, darum wirkt sie oft so entsetzlich. In China ist die Musik eine Staatssache. So gehört es sich auch. Darf es denn gestattet sein, daß jeder beliebige Mensch einen andern oder viele hypnotisiere, um dann mit ihnen zu machen, was er will? Und mehr noch, daß der erste beste unsittliche Mensch dieser Hypnotiseur sei? So aber ist dieses furchtbare Mittel in jedermanns Händen."

In ebenso geistreicher und paradoxer Weise wie diesen Nebenpunkt verteidigt Tolstoj auch den Gedanken, um dessen willen erdie Kreutzersonate" geschrieben hat. Posdnyschew, der Mörder aus Eifersucht, ist nach seiner Idee kein Ausnahme­mensch, Posdnyschew ist der Dichter, Posdnyschew sind wir alle. Jede Ehe ist unsittlich und verbrecherisch, in welcher Mann oder Weib jemals wohlgefällig nach einem fremden Weibe oder Mann blickt, ja auch dann, wenn Mann oder Weib vor der Ehe auch nur einen Schatten der Liebe gekannt hat. Schon früher hat Tolstoj seine Überzeugung in einem Glaubensbekenntnisse ausgesprochen:Ich weiß jetzt, daß jedes Verlassen des Mannes oder des Weibes, die sich zum ersten­mal verbunden haben, eben jene Ehescheidung ist, welche Christus den Menschen verbietet, weil die von den: ersten Manne oder