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Deutschland
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steller, das Wort vor allem auf den Geschmack der ckmmäeime anzuwenden, auf den Geschmack der Überkultur, auf das, was bereits morsch und faul zusammenzubrechen droht, um einem Neuen Platz zu machen. Was so recht lln cka mtzola sein soll, muß schon ein bißchen zwanzigstes Jahrhundert sein.
Wortspielereien! Die Sprache selbst ist sehr ft» <!e meele, ist in ihrem Niedergang, wenn sie so sprachwidrige Bildungen hervorbringt, wenn sie sich zu solchen Scherzen hergiebt wie die Tautologie 1890 — 1890. Aber wir wollen keine Pharisäer sein. Wohl ist unsere Sprache noch nicht so sehr lln cke 8i66lo, daß sie sich zu so eleganten Phrasen leicht mißbrauchen ließe; aber gerade in unseren höheren Gesellschaftsschichten ist die geistige Abhängigkeit von Paris trotz allem Chauvinismus immer noch so groß, daß die sinnlose Bezeichnung bereits zu uns herliberflutet. Alan ist bekanntlich Zeitgenosse, auch wenn man sonst gar nichts weiter ist. Und so kann jeder Narr zu seinem Tröste wenigstens tllr <l<- möcie sein. „Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln."
KLeine Kritik.
Dicsterweg und die Lehrerbildung. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Volksschullehrerstandes. Von Edwin Wilke, Lehrer in Köslin. (Berlin, Weidmannsche Buchhandlung 1890.)
Der achte deutsche Lehrertag, der vor kurzem in Berlin tagte, und die jüngsten Verhandlungen im preußischen Abgeordnetenhause haben gezeigt, in wie hohem Maße Diesterweg und seine Bestrebungen modern sind, wie er ans den Schild erhoben und heftig befehdet wird, als weile er noch unter den Lebenden. Das hat er mit Lessing gemeinsam, und ein Lessing der Volksschule verdient Diesterweg in der That genannt zu werden, vor allem auch im Hinblick auf seine freie, den einzelnen Konfessionen feindliche Stellung zur Religion. Aber auch mit Rücksicht auf seinen lebhaften, bilderreichen Stil. — Die vorliegende Schrift malt uns erst flüchtig, aber doch mit genügender Ausführlichkeit die Entwickelung des deutschen, vorwiegend preußischen Volksschullehrers bis auf Diesterweg, legt dann ausführlich die Ideale Diesterwegs und seine praktische Thätigkeit dar, und kennzeichnet in einem letzten Abschnitt kurz die Lage nach Diesterweg und des Verfassers eigene Stellung in dem immer noch nicht abgeschlossenen Kampfe des Lehrers um seine gesellschaftliche Stellung und der Schule um Unabhängigkeit von der Kirche. Er ist ein ziemlich gemäßigter Anhänger Diesterwegs, der aber doch nicht umhin kann, junkerlichem und pfäffischem Hochmut gegenüber manchmal recht bitter zu werden. Die Schrift, von der Diesterweg-Stiftung in Berlin mit dem ersten Preise ausgezeichnet, ist zur bevorstehenden Feier des hundertsten Geburtstages Diesterwegs zu empfehlen, ebenso als Einführung in Diesterwegs Werke selbst. Die Lektüre dieser aber muß allen Beteiligten, vor allen den Lehrern, warm ans Herz gelegt werden, sie sind ja durch zwei Sammelausgaben leicht zugänglich. —l.
Graphische Litteratur-Tafel. Die deutsche Litterntur und der Einfluß fremder Litteraturen auf ihren Verlauf vom Beginn einer schriftlichen Überlieferung an bis heute in graphischer Darstellung von Dr. Cäsar Flaischlen. (Stuttgart, G. I. Göschensche Verlagshandlung 1890.)
Wohl jedem wird beim ersten Anblick dieser merkwürdigen Karte ein überlegenes Lächeln um den Mund schweben und mancher wird versucht sein, sie mit einem schlechten Witz beiseite zu legen. Bei näherer Betrachtung aber sieht man, daß die Arbeit sehr ernst zu nehmen, und auch recht nützlich ist. Wenn man eine ausführliche Literaturgeschichte liest, und wäre sie auch vorzüglich disponiert, vergißt man gewöhnlich,
wenn man hinten angekommen ist, den Zusammenhang mit dem Anfang, und die Geschichte hat ihren Zweck verfehlt. Hier aber hat man die gesamte Entwickelung der deutschen Litteratur, den Strom mit allen Nebenströmungen recht ausführlich vor Angen. Besonders auch für Repetitionszwecke und für (Kamenkandidaten ist die Karte zu empfehlen; natürlich nur als Ergänzung eines tüchtigen Buches, das ja allein die Charakterisierung des inneren Gehaltes der Werke vornehmen kann. Anszusetzen an der Karte ist vor allem, daß unter den fremden Littera tnren, die dem Hauptstrom zufließen, nur die des Auslands verstanden sind; fast ebenso wichtig aber sind die periodischen Erneuerungen der alten deutschen Litteratur; so hätte unbedingt zur Zeit der Romantik und schon vorher ein ziemlich dicker Arm einmünden müssen, genannt: Mittelhochdeutsche Litteratur. Ans Einzelheiten soll nicht eingegangen werden, obwohl besonders in der nachgoetheschen Zeit nicht alles in Ordnung ist. Grillparzers Platz bei den Schicksalstragikern z. B. ist falsch, Raimund fehlt, die Goethe Epigonen lHeyse u. a.) hätten noch Platz gehabt, bei den Russen fehlt Dostojewski), Ohnet bei den Franzosen wäre besser fortgeblieben. —I.
Gemütliche Geschichten. Zwei Erzählungen aus einer schweizerischen Kleinstadt von I. V. Widmann. (Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel, 1890.)
Endlich wieder menschliche Töne! möchte man ausrnfen, wenn man von der Lektüre etwa des Wallothschen „Ovid" an diese erquickenden, harmlosen zwei Geschichten herangeht. Widmanns treuherzige, heitere Art ist den Lesern dieses Blattes bekannt; sie strahlt ganz und voll aus der behäbigen Sprache dieses Buches. Es ist nichts Großes, nichts Er schlitterndes, was der Poet uns da zu sageil hat, es ist gewiß nichts Modernes, aber er erscheint uns so sehr als individuelle, originelle Per sönlichkeit, daß er es hauptsächlich ist, der uns bei der Lektüre interes siert, viel mehr als seine wenig hervorragenden Erfindungen. Das widerspricht freilich dem ehernen Gesetz der Objektivität des Epikers, aber es ist auch selten ein dümmeres ausgestellt worden. Gerade bei den bedeutendsten Epikern der Gegenwart z. B-, bei Frin Reuter, Gott fried Keller und Theodor Fontane, interessiert uns die Fabel ihrer Erzählungen sehr wenig, — wie lächerlich unbedeutend ist z. B. die Erfindung im „Grünen Heinrich," — fast ausschließlich aber die Art der Behandlung, das subjektive Element. Es ist kein Zufall, daß die drei Genannten die Eigenschaft des Humors miteinander gemein haben. Auch in der Beziehung ist I. V. Widmann ihnen verwandt. — Als Stilprobe des liebenswürdigen Buches, das jeden ergötzen wird, — ein alt modisch Wort, aber hier paßt es, — der noch Zeit hat zur langsamen Lektüre so wenig aufregender Geschichten, sei die folgende Stelle ans der zweiten Erzählung hierher gesetzt: „Unsere Erzählung gleicht einer Fuge a. wo vom. Drei Liebespaare beschäftigen uns. Während aber der Komponist einer solchen Fuge gleichzeitig die drei selbständigen Stimmen in ihren mäandrischen Verschlingungen uns vorzuführen vermag, wird es dem Erzähler nicht so leicht gemacht, auch die andern Paare im Auge zu behalten, dieweil er das eine dem Leser eben vorstellt. Es liegt begründet im Wesen der Sprache überhaupt, daß der Epiker beinahe wie ein Hündlein, das bei mehreren Personen, die auf verschiedenen Stühlen sitzen, gern lieb sein möchte, zwischen ihnen unaufhörlich hin und her rennen muß. Ein etwas niederes Bild, das daher auch nicht in Lessings Lavkovn zur Verwendung gekommen ist, obschvn es eigentlich nichts anderes illustrieren will, als gerade die Wahrheit jener berühmten Abhandlung über die Grenzen der verschiedenen Kunstgebiete."
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Berichtigung. In Nummer 34 dieses Blattes hat „ein preußischer Richter" in dem viel beachteten Aufsätze über „Das Duell und seine Abschaffung" auch ans den durch die Zeitungen bekannten Fall in Mainz hingewiesen, wo ein Premier-Lieutenant auf den Haupt mann schoß, weil angeblich das Ehrengericht seine früher erfolgte Forderung des Hanptmanns als unbegründet verworfen hatte. Seitens des Gouvernements der Festung Mainz geht uns nun die folgende Berichtigung zu: „Diese Mitteilung ist unwahr, da dem Ehrengericht diese Angelegenheit nicht Vorgelegen, der Premier Lieutenant den Hanptmann auch nicht gefordert hat."
Verantwortlicher Redakteur: Fritz Mauthner in Berlin 'lV., Frobenstraße 33. — Dru«? und Verlag von Carl Flemming in Glogau.