Heft 
(1889) 37
Seite
623
Einzelbild herunterladen

37.

Deutschland.

Seite 623.

klamation sortreißen zu lassen, sondern immer menschlich, immer natürlich zu bleiben.

Hierfür giebt es ein in den Händen des begabten Schau­spielers unfehlbares Mittel das ich an ernem Beispiele klar machen will.

SchillersArnold von Melchthal" ist ein Bauernbnrsche, der aber im ganzenTeil" nicht einen bäurischen, kräftigen Satz redet. Er spricht Abhandlungen ich erinnere an die Stelle O, eine edle Himmelsgabe" u. s. w. er findet die herr­lichsten Bilder, er schwelgt in wohltönenden Worten aber er ist kein Baner, ihm fehlt jeder Schimmer einer treffenden Charakteristik.

Da muß unser Schauspieler thun, was eigentlich dem Darsteller jeder Schiller-Figur von nöten wäre. Er muß sich die Rolle übersetzen.

Übersetzen in schlichte, einfache Prosa. So wird er den Kern der Rolle finden, heransgeschült ans der Um­hüllung eines bestrickend schönen Wortprunkes, er wird er­kennen, was jeder Satz in der einfachsten Form besagt und danach seinen Don wühlen.

Wem: er dann auch am Abend willig dem Schwung der Schillerschen Dichtung Rechnung trügt in seiner Brust lebt doch der schlichte Prosa -Melchthal, der ihn hindert, sich völlig in die Wolken zu verlieren, der ihn immer wieder mit wohlthätigem Zwange zur Natur, zur Wahrheit zurückführt.

UndWahrheit" das ist das erste und heiligste im Leben wie in der Kunst.

..icin cls sisels."

Von

I- W-

(^^s>2or einigen Jahren saßen einige übermütige Deutsche in einer Pariser Kneipe zusammen und unterhielten sich über den Geist der französischen Sprache, der unbe­kümmert um die Regeln der Akademie sich neue Worte für neue Bedürfnisse schuf. Seit einiger Zeit hieß alles psollutch was noch vor kurzem olcko geheißen hatte. Das war wirklich sehr psollntt. Da das gewisse Etwas, das das Wesen des psTuUli s,nus ansmacht, in unserer Zeit von Jahr zu Jahr wechselt, so ist es nur in der Ordnung, wenn auch jede neue Saison ihren besonderen Ansdruck für die Sache erfindet. Einer von uns machte den unqualifizierbaren Vorschlag, den stolzen Franzosen heimlich ein ganz neugebackenes Wort für den alten Pariser Begriff zu schenken, ihren Sprachschatz auf Misere Kosten zu bereichern. Und zwar wurde ans dem Geiste Galliens heraus die schöne Silbe psollorr gewählt. Wir gebrauchten den ge­läufigen Ausdruck den Abend über zu unserem Spaß und lachten wie Kinder bei der Vorstellung, bald ans den Boulevards von echten Parisern, echten psolnittoux den Ruf zu vernehmen: Mais «Lest tros psollorr! (Dost tont oo gnckl )- n cko plus psolcorr!

Unsere schreckliche Absicht ist uns, wie man wohl weiß, nicht gelungen. Wir hatten weder denFigaro" noch denGil Blas" zur'Lanciernng des Wortes zur Verfügung, noch kannten wir eine einflußreiche psollnttouso. Sonst aber Hütte unsere Sprnchschöpfnng entschieden Glück machen müssen; denn so dumm ist gar kein Wort, daß es nicht in das Argot des Bou- levardiers Hineinpassen könnte.

Seit einigen Monaten hat man in Paris so ein neues thörichtes Modewort, das unübersetzbare: tin cko sidolo, welches nach seinem logischen Sinn wohl eine Lebensdauer von zehn Jahren haben dürfte. Auch die übrige Menschheit ist am T Januar dieses Jahres, Rußland natürlich etwas später, in das letzte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts eingetreten. Wir haben das alle gewußt, uns aber nichts Besonderes dabei

gedacht. Wir feiern, wenn wir nicht gerade Schauspieler sind, die Jubiläen nicht gern häufiger als alle hundert Jahre. Auch die Frau Zeit will uicht öfter als alle hundert Jahr einmal an ihr Alter erinnert werden. Wer aber recht modern ist, recht historisch gebildet, für den gewinnt jeder kurze Zeitabschnitt einen denkwürdigen Charakter, und ein Pariser gar wittert im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts eine wichtige Epoche, weil er gerade darin lebt. Wir sind also jetzt alle tin cko sioolo! Unsere Dichter, unsere Maler, unsere Bleistifte und unsere Hüte sind tm cko sioolo. In Paris wenigstens, die übrige Welt wird Nachfolgen, Rußland natürlich etwas früher als die an­dern. Sprachlich ist zu bemerken, daß tin cko sidolo in dieser Anwendung ein Eigenschaftswort ist, wie olcko und psollntt und psollorr. Dieser Tisch ist Tonis quin/o, diese Uhr ist onipiro, und der Eiffelturm ist tin cko sidolo, er ist sogar pur oxoollonoo tin cko sioolo.

Man braucht Kant und die Wesenlosigkeit der Zeit nicht verstanden zu haben, man braucht den Begriff Zeit bloß in seiner schlichten Bedeutung zu uehmeu, die Zeit iu ihrer unendlichen Ausdehnung zu überschauen und die Willkürlichkeit daneben zu halten, mit welcher die Menschen die Jahre und Jahrhunderte abzühleu, um die ganze Albernheit der Bezeichnung kni cko sidolo einzusehen. So wenig die politische Grenze eines Landes, wo sie nicht mit der natürlichen zusammenfällt, irgend einen Unter­schied im Klima oder in der Pflanzengeographie erkennen läßt, so wenig der Rausch der alljährlichen Shlvesterfeier den Cha­rakter der Beteiligten ändert, so wenig Bedeutung hat auch die Ziffer des Jahrhunderts, sei es im großen, sei es im kleinen, auf die Kultur der Menschheit. Man wird in der Nacht, welche 1899 beginnt und 1900 endet, gewiß furchtbar viel trinkeu, aber die Natur und die Geschichte wird sich um das Datum ganz und gar nicht bekümmern.

Angenommen aber auch, dieses letzte Jahrzehnt des neun­zehnten Jahrhunderts Hütte wirklich aus irgendwelchen zu­fälligen Gründen seinen besondern unvergleichlichen Charakter, so wäre dennoch die Bezeichnung tin cko sioolo so kindisch wie nur möglich. Wenn die Franzosen und mit ihnen unsere Kunst­händler und deren Käufer sagen: Das ist Tonis cpnnxo, das ist ompiro, so ist die Stilbestimmnng eben nichts weiter als eine abgekürzte Bezeichnung. Der Kenner weiß schon, welcher Geschmack unter den verschiedenen französischen Regenten ge­herrscht hat, er weiß nach dem bloßen Regentennamen, ob der Stuhl für die Kniee oder für den Rücken unbequem war. Das eine Wort zaubert für den Kunsthistoriker den Geschmack der ganzen Epoche hervor, während es für den Laien so gut wie sinnlos ist. Es ersetzt eine Jahreszahl.

Nun quälen wir uns, die wir so entsetzlich gelehrt die Stile aller vergangenen Zeiten klassifiziert haben, schon lange mit der Aufgabe, wie der Stil unserer eigenen Zeit zu benennen sei. Zwar sollte gerade unsere historische Bildung uns lehren, daß dieser Name erst von der Nachwelt gefunden werden wird; wir quälen uns aber eben doch, weil historische Bildung be­kanntlich nicht klug macht. Da kommt uns der Pariser Boule­vard zu Hilfe, findet das Ei des Kolumbus und nennt sich und uns und die Kunstbutter und das lenkbare Luftschiff und das Torpedoboot üu olo sioolo. Nun wissen wir's.

Wir sind aber nicht viel weiter gekommen. Wir leben im Jahre 1890 und möchten erfahren, welche Bedeutung dieses Jahr in der Weltgeschichte haben werde. Da sagt uns jemand ganz ernsthaft, es werde 1890 heißen. Wir nähern uns dem Ende des Jahrhunderts und möchten die Signatur der Zeit kennen lernen; kür cko sioolo giebt man uns zur Antwort. Der Witz ist eigentlich zu dumm, als daß man über ihn lachen könnte.

Tin cko sioolo bedeutet in der Anwendung der Pariser Zeitungen im Grunde alles. Es ist ein Füllwort geworden wie irgend eine sinnlose Interjektion. Aber der Geist der Sprache hat doch etwas Symbolisches herausgefunden, eine Verwandt­schaft zwischen dem Niedergang des Jahrhunderts und dem Niedergang unserer Kultur. Darum bemühen sich bessere Schrift-