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Deutschland.
37.
Wenn sich der Schauspieler auf der Scene widerstandslos vom Sturm der Erregung mit fortreißen läßt — was wird er uns darstellen?
Höchstens seine eigene Leidenschaft.
Was liegt uns an der Leidenschaft des Herrn ck? Wir wollen die Gefühlsausbrüche der darzustellenden Person miterleben und wir werden es als Peinlichen Zwiespalt empfinden, wenn der Schauspieler — der in den ruhigen Scenen vortrefflich charakterisierte — plötzlich ein anderer wird — „aus der Rolle füllt."
Denn es gehört große Überlegung und vor allem große Überwindung — ein energisches Ankämpfen gegen die eigene Persönlichkeit — dazu, in lebhaften, ja wilden Momenten doch streng in den Grenzen des Charakters zu bleiben.
Leidenschaft ist aber keine Überlegung, sondern ein Überstürzen, kein Überwinden, sondern ein Sichgehenlassen.
In dem Zustande eigener leidenschaftlicher Erregung wird darum der Schauspieler niemals die Leidenschaft anderer künstlerisch und wahr darstellen können.
Noch andere Momente kommen hinzu, die vom Mimen gebieterisch die größte Selbstbeherrschung fordern, vor allem die Gesetze der Rhetorik und die Gesetze der Plastik.
Jede dramatische Steigerung will in Ton und Geste sorgfältig vorbereitet sein — nur dann ist sie des Effektes, der durch eine einzige störende Betonung oder Bewegung so leicht gefährdet wird, vollkommen sicher — und der Künstler muß genau festgestellt haben, wo ein ritmrämnlo, wo ein beschleunigtes Tempo eintritt, wo er Pausen macht oder den Ton wechselt, er muß auf das sorgfältigste berechnet haben, wie er von Stufe zu Stufe bis zum Gipfel der Scene emporklimmt.
Je schneller die Rede wird, desto mehr muß er auf Klarheit und Deutlichkeit bedacht sein, je lauter sie wird, desto sorglicher muß er sich hüten, daß ihm keiner der unschönen Töne entschlüpft, die selbst in der begnadetsten Kehle schlummern.
Er braucht seine vollkommenste Ruhe dazu, sich von dem genau vorgezeichneten Wege nicht zu verirren.
Darum soll der Schauspieler alle Wonnen, alle Leiden des künstlerischen Schaffens daheim, in seinen vier Pfühlen durchleben.
Dort soll er mit der darznstellenden Person lachen und weinen, jubeln und klagen — nicht nur, bis er völlig mit ihr eins geworden, sondern bis sie, die ihn so ganz erfüllte, sich wieder — völlig von ihm losgelöst hat.
Dann ist die Rolle sein Besitztum, wie das fertige Bild das Besitztum des Malers ist.
Vor dem Publikum muß der Schauspieler mindestens so hoch über der Rolle stehen, daß er trotz der nie ausbleibenden Erregung des Abends doch keinen Augenblick die Grenzen vergißt, die er sich selbst gezogen, daß er durch nichts beirrt, Zug für Zug getreulich nachbildeu kann, was daheim und auf den Proben fertig geworden. — — — — —
Ob bei dieser künstlerischen Arbeit mehr der Kopf oder das Herz beteiligt ist, das ist ganz individuell.
Es giebt eine Art von Schauspielern, die sich „denkende Schauspieler" nennen — mein Geschmack sind sie nicht und ich möchte sie eher „gemütlose Schauspieler" nennen — und die mit viel Verstand und wenig Herz gute Erfolge erzielen.
Man kennt ferner besonders viele Schauspielerinnen, die mit minimalem Verstand und außerordentlich viel Herz noch intensivere Wirkungen Hervorbringen.
Und es giebt drittens eine Menge Leute ohne viel Verstand und ohne viel Herz, welche mitunter spielend den Sieg über die früher genannten erringen — durch ein unerklärliches Etwas — durch eine Art von Instinkt.
Sie treffen den Nagel immer auf den Kopf, sie finden, ohne viel zu suchen, sie können nichts erklären, nichts definieren, sehen aber alles lebendig vor sich und haben außerdem ein technisches Talent, mit dem sie sich die schwierigsten Dinge in der kürzestell Zeit zu eigen machen.
Diese Leute sind oft von dem Holz, aus dem die größten
Mimen geschnitzt werden — das sind die specifisch theatralischen Talente.
Kopf und Herz! Sie spielen uns in der Kunst so viel schlimme Streiche, als im Leben.
So verleitet der Kopf den Künstler zum Grübeln nach neuen Nüancen, die die Einheit der Rolle zerstückeln und der Darstellung ihre Ursprünglichkeit rauben.
Das Herz dagegen spricht gerne mit an Unrechter Stelle — besonders junge Künstler werden gar zu leicht „des trockenen Toiles satt," um dem Herzen das Wort zu erteilen. — —
Gar oft haben wir's mit angehört, wie sich ein Anfänger — ein „blutiger Anfänger" heißt es in der Theatersprache — bemühte, nur ja recht viel in die wenigen Worte seiner kleinen Rolle hineinzulegen und damit jämmerlich Schifsbruch erlitt oder — deutlicher gesagt — ausgelacht wurde!
Wir haben gewiß nach Kräften mitgelacht und nicht daran gedacht, mit wie bitterem Unrecht da vielleicht ein strebsamer Mensch nilverdient gekränkt wird.
Wir haben's eben nicht gewußt, auf einem lvie gefährlichen Posten der junge Schauspieler steht, wir ahnten nicht, welchen Respekt selbst große Schauspieler zumeist vor den „kleinen Rollen," „Meldungen" n. s. w. haben.
Der Darsteller einer Hauptfigur wird von der Rolle getragen, der Episodist soll gewöhnlich ans der Rolle erst etwas machen. Der Hauptdarsteller darf mit starken Strichen zeichnen, er ist sich klar über den Charakter und hat Raum, denselben breit anzulegen und deutlich zu entwickeln — dein Episodisten ist ein bescheidener Raum zugemessen, er muß sofort in prägnantester Eigenart anftreten, wenn er wirken will, und doch wird bei ihm jeder starke Strich leicht als Bordringlichkeit, als Überschreiten des Rahmens getadelt.
Auch im Charakter kann er sich Überalls leicht vergreifen - der Dichter konzentriert zumeist all seine Liebe auf die Hauptpersonen des Werkes und formt die Episoden durchaus nicht mit der gleichen Anschaulichkeit. Und nun gar die „Meldungen."
Eine neue, unbekannte Person tritt auf, von der der Hörer ja nicht voraus weiß, wie wenig sie eigentlich zu sagen hat.
Die Theaterzettel knittern, alle Operngläser richten sich auf die Bühne, mit gespannter Aufmerksamkeit lauscht das Publikum, da die Meldung, um möglichst viel Inhalt in eine möglichst knappe Form zu bringen, vom Autor gewöhnlich überaus verzwickt geschrieben ist.
Ein einziges Versehen, das bei der Darstellung einer großen Rolle völlig unbeachtet vorübergehen würde, blamiert den kleinen Schauspieler rettungslos, denn er kann seine Fehler nicht wieder gut machen, weil er „abgeht und nimmer wiederkehrt."
Kleine Berichte, wie derjenige des Offiziers in „Don Carlos," des O'Kellh in „Maria Stuart" und hundert andere sind beim Theater verrufen und gefürchtet.
Also — Respekt vor den kleinen Rollen!
Bei jeder Bühne erzählt man sich eine Unzahl von drolligen Wort- und Sinnverdrehungen, welche die Furcht vor derartigen Aufgaben gezeitigt hat.
Es sind da dem staunenden Publikum schon die kühnsten Dinge verkündet worden, der verdutzte Hörer grübelt mitunter wochenlang über die rätselhafte Äußerung eines Boten oder Palastdieners nach — kurz, die überraschendsten und lustigsten Theater-Anekdoten liegen im Gebiete der „verhunzten Meldung." § »
Nun zur Beantwortung der vierten und letzten Frage.
Daß es der Schauspieler verstehen muß, über triviale Gedanken eines Bühnenwerks leicht und flüchtig hinwegzugleiten, daß er durch Ton und Sprechweise eine niedrige Sprache zu adeln wissen muß, ist selbstverständlich.
Hierfür giebt es keine Norm, keine Methode.
Anders liegt die Sache, wenn es gilt, die erhöhte bilderreiche Sprache der Tragödie etwas herabzustimmen, sich nicht durch den Schwung einer phantastischen Diktion zur De-