Heft 
(1889) 39
Seite
656
Einzelbild herunterladen

Seite 656.

Deutschland.

36.

Eigentum auszuscheiden verstand. Ach, wie haben wir gerauft! Mit welcher Liebe zur Sache! Mit welcher selbstlosen Begeisterung! Manche von uns sind zwar trotzdem seither Hofräte geworden ich kann es nicht verschweigen! Aber die anderen haben sich, dank ihrer Rauflust, noch bis heute den idealen Sinn bewahrt, ohne den es, nach dem Zeug­nis des Herrn Reichskanzlers, keinen deutschen Reichstag gäbe. Ja, dank der Rauflust ihrer Jünglingsjahre! Gewiß werden Kaffeeschwestern männlichen und weiblichen Geschlechts die Erscheinung, die ich so tief beklage, als einen Kulturfortschritt bezeichnen und mich harmlosen Spa­ziergänger als einen Verderber der Jugend brandmarken ich schere mich nicht darum. Ich bleibe dabei, das wird kein rechter Mann, der mit vierzehn Jahren nicht die Versuchung verspürte, sein Innenleben in seine Fäuste zu projizieren. Und wenn die Aussicht besteht, daß in den nächsten Jahrzehnten die rechten Männer selten werden dürften, dann muß das Vaterland unruhig werden. Das ist in aller Bescheidenheit meine Ansicht. Und so erwarte ich von den deutschen Reichsboten, daß sie demnächst ein Gesetz votieren werden, das das Raufen als obligaten Unterrichtsgegenstand erklärt. UI. Kanu.

Herr von Treitschke und das junge Deutschland. Von Paul Nerrlich. (Berlin, Rosenbaum L Hart.)

Der Verfasser spricht hier über Herrn von Treitschkes Geschichts­schreibung manches harte, aber schwerlich ungerechte Wort aus. Er sagt uns freilich nichts mehr Neues; denn daß Treitschke kein objektiver und parteiloser Geschichtsschreiber ist, ist schon bekannt; und wir gestehen sogar, wir würden ihm hieraus nicht einmal den schwersten Vorwurf machen, sofern sich mit einer parteiischen und subjektiven Geschichts­schreibung auch eine größere Wärme, ja schöne Leidenschaftlichkeit in der Darstellung vereinigt. Gerade das Gute, das, was die Leser zu einein erhöhten Interesse für den Stoff zwingt, Pflegt aus solcher Subjektivität zu entspringen. Doch die Sache liegt hier schlimmer. Leider verbindet sich und eben das hat Nerrlich gelegentlich der Kritik, welche das junge Deutschland durch Treitschke erfährt, sehr drastisch nachgewiesen mit der Subjektivität unseres Historikers eine starke DosisMuckertum;" die Darstellung ist zuweilen so blind, so einseitig, so gehässig, daß man bei aller Achtung vor Treitschkes Stil diese Art von Geschichtsschreibung denn doch für die Dauer nicht ertragen kann. Nerrlich zeigt, wie der Historiker schon ganz falsch eitierte Sätze ans ihrem Zusammenhänge heransreißt, Bücher verurteilt, die er offenbar gar nicht gelesen, und was dergleichen Dinge mehr sind, die man keinem jungen Reeensenten mehr verzeiht. N. L.

Lorin. Roman von Graf P. A. Walujew. Vom Verfasser autorisierte deutsche Ausgabe. Zweite Auslage. Drei Teile. (Leipzig, F. A. Brockhaus 1890.)

Die staatsmännischen Verdienste des vor kurzem verstorbenen russi­schen Ministers Walujew hat Arthur Kleinschmidt in Nummer 21 dieses Blattes gewürdigt. Auch auf den vorliegenden großen Roman ward damals schon Hingelviesen. Groß ist er nun freilich nur uach der Elle gemessen, lang wäre der bezeichnendere Ausdruck. Und auch das ist er nur, tveil der seiner Dienste entlassene Staatsmann besonders in den letzten Teil breite Politische, ökonomische und national-ökonomische Ge­spräche eingeslochten hat, die mit der Handlung nicht das mindeste zu thun haben. Vielleicht drängte es den gekränkten Mann, seine frühere politische Thätigkeit auf diese Weise zu verteidigen. Der Fall ist ja nicht unerhört, daß große Männer, die nach langer Thätigkeit wider ihren Willen ins Privatleben zurückkehren, schwatzhaft werden. Von den Interviews kann hier füglich abgesehen werden: nur auf eines der Ge­spräche sei nachdrücklich hingewiesen: S. 274 bis etwa 290 des dritten Teils unterhält sich eine Gesellschaft in größter Breite über einen neu­erschienenen Roman; gemeint ist ohne Zweifel kein anderer als der vor­liegende Lvrin. Um zu zeigen, daß Walujew selbst sehr wohl den eben gerügten Fehler erkannte, stehe hier die folgende Stelle (S. 281 unten): Man sieht, es handelte sich dem Verfasser weniger um das, was er in diesen Skizzen erzählt, als vielmehr um die gelegentlichen Bemer­kungen, zu denen ihm dieselben Anlaß gaben."

Uns Nichtrussen aber kann es nicht verübelt werden, wenn uns die schön erzählte Handlung mehr interessiert als das dichtgerankte Beiwerk. Und auch diese eigentliche Geschichte werden wir in anderer Weise wür­digen, als die russische Gesellschaft. Wie eine Übersetzung des Nibelungen­liedes die altertümlichen Ausdrücke möglichst wahren soll und nicht in modernem Ton sich halten darf, obwohl er doch zur Zeit seiner Ent­stehung modern war, oder wie für uns bei einer alten Bronze die Patina, der edle Rost, znm ästhetischen Genuß nicht fehlen darf, so ist bei einer Erzählung, die wir aus fremdem Land übernehmen, für uns das eigentlich ästhetische und das ethnologische Element, wenn ich so sagen darf, nicht voneinander zu scheiden. Und ich glaube, daß das, was uns am Lvrin so anzieht, von den Russen selbst kaum beachtet wird, da es eben gerade ihre eigene Natur ist. Walujew spricht S- 168 des zweiten Teils von jenemecht russischen Gefühl, für das es im Russischen keinen Ausdruck giebt. Die Franzosen nennen es re^imtion, die Deutschen Ergebung." Es ist in der That der Geist der Resignation wir Deutschen ziehen nach unserer Gewohnheit das fremde Wort dem von Walujew genannten vor der durch die russische Seele und so auch durch dieses Buch weht. Damit hängt zusammen, daß die mensch liche Leidenschaft nur eine verschwindende Rolle spielt: an ihre Stelle ist Entsagung, Ruhe und das ist das Bemerkenswerteste Wahrheit getreten. Wo andere Schriftsteller es sich nicht hätten entgehen lassen, stürmische Auftritte zu malen, wo sonst zwei Charaktere schroff zusammen­prallen müßten, da treten sich hier Menschen gegenüber, sagen still und ruhig, wie's ihnen ums Herz ist, schauen sich traurig an und gehen aus­einander. Das ist die typische Situation dieses Romans, in dem uns immer wieder nein Personen ohne Unterlaß vorgeführt werden, während die Träger der Handlung doch nur drei Personen sind: Lvrin, die Gräfin Jskritzky und Olga; der Typus des Manns, des Weibs und des Mäd chens. Der Mann liebt natürlich zu Beginn des Romans das Weib, dessen anfängliche Leidenschaftlichkeit sehr bald der aufopfernden Resig­nation Platz macht; aus dem Weibe wird die Frau; Lorins echte Liebe zum Mädchen erwacht; aus Pflichtgefühl und tiefein Mitleid hält er jedoch an der Gräfin Sinaida fest, bis sie ihn freigiebt und entsagt. Auch dann noch fühlt er sich moralisch an sie gebunden, obwohl er und Olga sich längst ihre unauslöschliche Liebe gestanden. Es ist das eine schöne Seene im Kolosseum, auch sie ohne jede Leidenschaft, still, weh­mütig, selbst der obligate Kuß fehlt.Olga bückte sich herab, brach eine weiße Rose von einem der im Mauerwerk wuchernden Büsche und sagte, indem sie ihm die Blume reichte:

Nehmen Sie hin und bewahren Sie sie zum Andenken an Schwester Olga, die Sie liebt, Ihrer gedenken und wie zuvor für Sie beten wird."

Gebetet wird sehr viel in dem Buche. Auch das gehört zu seiner Patina. Was uns hier wie etwas Selbstverständliches berührt, wäre uns in einem deutschen oder französischen Buche schlechthin unerträglich, ja sogar in einem englischen.

Ein sanfter Tod erlöst schließlich die arme Gräfin Sinaida und vereinigt die Liebenden.

Bemerkenswert an dem Buche ist noch die intime Kenntnis der westeuropäischen Länder und ihrer Kultur. Deutsche Dichter finden wir in den Mottos der Kapitel vielfach eitiert, selbst solche untergeordneten Ranges, die nicht zu kennen ein Deutscher sich nicht sonderlich schä­men muß.

Alles in allem: immerhin ein bemerkenswertes Buch; waren nicht die eingangs erwähnten Längen, würde es besonders bei Frauen und frauenhaft gestimmten Männern viel Anklang finden. Wenn aber Klein­schmidt a. a. O. sagt, Walujew schildereedel- und freidenkende Men­schen im Gegensätze zu den landläufigen Pessimisten und Nihilisten, Ge­stalten wie Lvrin, die Gräfin Jskritzky .... leben und weben, sind nicht müßige Phantasiegebilde halb oder ganz verrückten Hirns," so kann dem, wenn wirklich, wie es scheint, damit Walujew gegen Dostojewski u. a. ausgespielt werden soll, nicht zugestimmt werden. Ilm ein Beispiel aus höheren Sphären zu nehmen, so hätte dasselbe um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, etwa zu Gunsten der französischen Klassiker gegenüber Shakespeare gesagt werden können; denn neben Walujew steht Dosto­jewski immer noch wie ein Riese da und verhält sich zu ihm, um in Frankreich zu bleiben, doch fast wie Zola zu Ohnet.l-

Verantwortlicher Redakteur: Fritz Mauthner in Berlin rv., JroLenstraße 33. Druck und Verlag von Carl Flemmiug in Glogau.