Heft 
(1889) 39
Seite
655
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39.

Deutschland.

Seite 655.

Kteine Kritik.

Goethe-Jahrbuch. Herausgegeben von Ludwig Geiger. Elfter Band. (Frankfurt a. M. Literarische Anstalt Mitten und Lüning 1890.)

Der elfte Band des Goethe-Jahrbuchs wird den Gegnern der exakten Goethe-Philologie Anlaß zu neuen Angriffen geben, ohne leider die Verehrer Goethes durch zahlreiche wertvolle Gaben zu erfreuen. Die Eröffnung des Goethe-Archivs und die Begründung der Goethe-Gesell­schaft hat einige Jahre hindurch eine Fülle der wertvollsten und in­teressantesten Manuskripte ans Licht gebracht und gesammelt, so daß die neuen Quellen ganz stattlich in das Sammelbecken des Gvethe-Jahr- bnchs zusammenflossen. Einige Jahrgänge boten auch dem ungelehrtesten Goethefreundc ganz köstliche Briefe, lesenswerte Abhandlungen von Goetheforschern kamen hinzu und was für die eigentliche Goethe-Wissen­schaft systematisch geleistet wurde, das konnte mitgenommen werden und hatte übrigens häufig auch für den Nichtfachmann seinen besonderen Reiz. Aber die Quellen scheinen versiegen zu wollen. Es liegt in der Natur der Sache und ist kein Fehler des Herausgebers, wenn nach einigen fetten Jahren die mageren kommen; nur daß die mageren Jahre chronisch werden dürften. Ganz so öde wie der vorliegende elfte Band hätte aber das Jahrbuch doch wohl nicht werden müssen. Von Goethe selbst ist nur ein Greisenbrief an seinen Sohn wertvoll, allenfalls noch einige Varianten zu dem weiuseligen Ghaselauf den Kometenwein." Nimmt man dann noch Erich Schmidts kurze Anzeige der Faustkürzung von L'Arrvngc und ebenso eine hübsche Studie Büsgen über Gvethe als Botaniker aus, so bleibt an dem ganzen starken Bande nichts zu loben übrig. Und je weniger Bedeutendes ein solches Unternehmen bietet, desto ungünstiger fällt die Anlage zum Unbedeutenden auf. Selbst ein Stockphilologe wird lächeln, wenn der Entdecker und Beschreiber der kleinen Barianten des Ghasels selbst wie berauscht schreibt:Wäre der Fund nicht so überraschend und erfreulich, daß er alles Bedauern erstickte, man möchte beklagen, daß er nicht mehr meiner Bearbeitung des Divan in der Weimarischen Ausgabe zu gute kommen konnte." Das ist ja ein verzwickter Falt; denn wäre der Fund nicht so überraschend und erfreu­lich, daß er alles Bedauern erstickte, so wäre ja gar nicht zu beklagen, daß er für die große Goethe-Ausgabe zu spät kam. Da wir schon eben falls bei Kleinigkeiten sind, so sei der gar zu pedantischen Behandlung der Goethe-Biographie gedacht. Da ist z. B. im Verlage des Goethe- Jahrbuchs ein Register zu den zehn ersten Bänden des Goethe-Jahr­buchs heransgekommen. Schön. Der elfte Band des Goethe-Jahrbuchs aber giebt nun wieder eine Übersicht über den Inhalt des Registers. Und das nächste Register wird einen Hinweis über die Notiz enthalten müssen. Das erinnert doch wohl an Schopenhauers ungarischen Mag­naten, der eine Agraffe an die Spitze seines festgeschnallten, hohen Tschakos befestigen wollte, und als er mit den Händen nicht bis hinauf reichen konnte, weislich auf einen Stuhl stieg. Solche Dinge sind frei­lich Geschmacksfrage, aber das Goethe-Jahrbuch sollte es an Geschmack nicht fehlen lassen. Gegen die Unergiebigkeit der Quellen freilich wird nur eines helfen: Der Entschluß, das Sammelwerk nicht um jeden Preis alle Jahre, sondern immer erst dam: erscheinen zu lassen, wenn der Stoff ausreicht. t'm.

Dichter-Steckenpferde. Imitationen von Theodor von Sos- nosky. (Dresden und Leipzig, Verlag von Heinrich Minden.)

Eine Reihe von zehn Parvdieen, welche durchgehends ein sehr feines Sprachgefühl beweisen, aber nur in einzelnen Fällen Übermut genug enthalten, um die für Leser von Parvdieen so erwünschte Heiterkeit zu erregen. Am hübschesten sind die Imitationen von Rosegger und Ibsen. Der Verfasser erweist mir die Ehre, in seiner Vorrede an meine pa- rodistischen StudienNach berühmten Mitstern" zu erinnern und in für mich sehr schmeichelhafter Weise dagegen zu protestieren, daß seine Skizzen eilte Nachahmung meines alten Büchleins wären,und daß ihnen eilte ähnliche Idee zu Grunde liegt, wird man mir wohl nicht zum Vorwurf machen, denn auch Mauthner war nicht der erste, der auf diesen Ein­fall gekommen ist, sondern Bret-Harte." Da der Vorwurf, ich hätte den

amerikanischen Humoristen nachgeahmt, mir seit zehn Jahren in Büchern und Zeitschriften entgegengetreten ist, darf ich mir wohl erlauben, die Sachlage an dieser Stelle darzulegen; das wird zwar nicht gerade für die Litteraturgeschichte, aber vielleicht für einige meiner Leser von In­teresse sein. Ich beginne also mit dem furchtbaren Geständnis, daß ich die lustigen Parodieen Bret Hartes allerdings gleich nach ihrem Er­scheinen, tch glaube vor etwa sechzehn Jahren, gelesen habe. Ich fand sie ganz köstlich und war dem Verfasser dankbar; Bret-Harte hatte über die Phantastik seiner Opfer ein herzhaftes und gesundes Gelächter an­geschlagen, aber ein Eingehen auf die Stileigentümlichkeiten war offen­bar gar nicht seine Absicht gewesen. Jedenfalls mache ich dieses Ge­ständnis bloß der historischen Gerechtigkeit wegen; mir fiel nicht im Traum ein, nach Bret-Hartes Beispiel irgend etwas zu schreiben, und ich vergaß die kondensierten Novellen des Amerikaners vollständig. Zu meinen Versuchen führte mich eine äußere Veranlassung viele Jahre später. Am Tage nach dein ersten Attentat auf Kaiser Wilhelm brachte dieNationalzeituttg" einen wunderlichen Brief, in welchem der greise Berthold Auerbach nicht ganz geschmackvoll der allgemeinen Entrüstung Worte lieh. Der Brief forderte den Spott heraus. So erschien denn am nächsten Tage imBerliner Börsencvnrier" eine höchst amüsante Parodie, welche von Paul Lindau und seinen Freunden im Cafe Kaiser- Hof verfaßt worden war. Bekannte deutsche Schriftsteller gaben da natürlich war alles fingiert ähnlich tiefsinnige Betrachtungen über das Tagesereignis zum besten. Der gelungene Spaß wurde in Litte- ratenkreisen viel besprochen und bei einer solchen Unterhaltung war es, daß ich eine Art Wette einging, den Ton der genannten Schriftsteller und Allerbachs dazu ebenso gut treffeil zu können, wie ihn Lindau und Genossen getroffen hatten. Sv erschienen denn bald darauf meine ersten Parodieen anonym in dem damals jungenDeutschen Montagsblatt." An Bret-Harte hatte niemand gedacht. Wie weit dennvch eine unbe­wußte Erinnerung vorlag, das mag ein Gelehrter entscheiden, wenn gar nichts Wichtigeres mehr zu entscheiden ist. tue.

Die Rauflust der Schuljugend P. Die Rauflust der Schuljugend liegt in den letzten Zügen. Ja, ja, ich scherze nicht. Vielleicht noch bevor diese Zeilen die Drucker-Werkstatt verlassen, wird die letzte Faust geballt, der letzte Puff ausgeteilt, das letzte Bein gestellt sein und der Menschheit wird von allen diesen schonen Dingen nur noch eine ange­nehme, aber allmählich verblassende Erinnerung bleiben. Es war vor ein Paar Tagen, die Frühlingssonne war huldvoll, leutselig, herablassend, wie es nur ein Schauspieler sein kann, der ein dreißigundeinhalbjähriges Jubiläum feiert, und ich spazierte durch die Straßen Berlins. Ach, was für schöne Luftschlösser ich baute. Denn es gehört zu den wissenschaftlich feststehenden Einwirkungen des Sonnenlichtes, daß es die Menschen zu Idealisten und Optimisten macht. Ich war also sehr vergnügt. Da wollte es der Zufall, daß mich mein Weg an einem Gymnasium vvrbei- führte. Es schlug ein Uhr, die Schule war zu Ende und herausstürzte ! nein . . . -schritt! auch nicht . . . herausschlich ein Hanfe halb­wüchsiger Jungen. Wohl flog ab und zu eine Mütze sehnsüchtig in die Höhe, aus unbekannten Ursachen unbekannten Höhen zustrebend; wohl lag ab und zu ein Junge nachdenklich auf dem Pflaster seiner Vater­stadt, nicht dem Zug des Herzens, sondern der Stimme des Schicksals gehorchend aber cs war eben immer nur eine Mütze oder ein Junge. Die übrigen gingen gesittet von dannen und nickerhielten sich von den unregelmäßigen Verba auf z«, von den Schandthaten des Caligula, von Quadratwurzeln, Staubgefäßen, Molchen und von allem, was sonst in diesen: entnervten letzten Viertel des neunzehnten Jahr­hunderts ein deutsches Gymnasiastenherz in: Innersten vor Wonne er­zittern macht. Und die Straße war doch so breit, und die Jungen hatten ihre angeborenen Fäuste, und so weit das Auge reichte, war kein einem Professor ähnliches Brillentier zu erblicken. Dennoch rauften diese Jungen nicht! Traurig! Sehr traurig, erschütternd geradezu! In voller An­schaulichkeit stand da plötzlich das unvergessene Bild meiner eigenen Gymnasiastenzeit vor meiner Seele: wie noch kaum die Thür des Schul­zimmers sich hinter uns geschlossen und schon ein unentwirrbarer Knäuel sich gebildet hatte, und dreißig dem bajuwarischen Volksstamme angehörige Jünglinge ihre Ohren, Nasen, Arme, Beine, Bücher n. s. w. sofort als eine Art Gesamt-Eigentum erklärt hatten, aus dem allerdings nach langen: und mühevollem Ringen jeder einzelne meistenteils sein Sonder-