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Deutschland.
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schmeckendsten zubereitet wird, wahrend ein „nackter Küchenjunge mit Günseflügeln auf dem Rücken langsam Öl in eine Saueiere tropfen läßt.
Ebenso unverständlich für unverbildete Augen, unverständlich für jeden natürlichen Sinn, der seine Schnlkenntnifse nicht zn Hilfe nimmt, sind ebenso Thorwaldsens Illustrationen zur antiken Sagengeschichte wie seine allegorischen Werke. Wenn Adler und Löwe friedlich aus einer gemeinsamen Waschschüssel trinken und dies den Genius des Friedens und der Freiheit „bedeuten" soll; wenn ein hübsches frisiertes Kind mit vier verschiedenen Spielzeugen uns „Amors Weltherrschaft" verkörpern soll; wenn figurenreiche Gruppen uns gleichgültige Menschen zeigen, die sich in gewühlten Stellungen zusammen haben photographieren lassen, und wir dabei an die furchtbarsten Momente aus der griechischen Heroenzeit denken sollen: — so versagt unsere Phantasie den Dienst und die Kosten des eingebildeten Genusses müssen vollständig aus unserm alten Schulsack bestritten werden.
Eine Venus vou Thorwaldseu wird viel bewundert. Sie kommt aus dem Wasser und legt eben das Leintuch, mit dem sie sich abgetrocknet hat, beiseite; in der Hand hält sie einen Apfel und überlegt, ob es rätlich ist, sogleich nach dem Bade Obst zu genießen. Ernsthaft: wenn wir nicht mit der abgestandenen Geschichte vom Urteil des Paris aufgezogen worden wären, wäre die Darstellung eines nackten Weibes mit einem Apfel für uns nicht stumm, nicht vollkommen sinnlos? Als diese Marmorstatue zu ihrem Käufer gebracht werden sollte und aus dem Schiff gehoben wurde, riß die Kette des Krahns und die schwere Kiste siel in das Schiff zurück, glücklicherweise auf einen Haufen Getreide. „Ceres hat ihre Schwester Venus gerettet," sagten die Zeitgenossen mit einem Sprachgeschmack, der dem Kunstgeschmack der Apfelfrau ebenbürtig war.
(Fvrtst'hnng folqt.)
Unteroffiziere (80u8-Offs). *
Von
H. L-
Ö^n einer köstlichen Stelle des Reineke Fuchs wird uns be- richtet, wie Reineke im Kampfe mit Jsegrimm dem Wolf diesen an seiner empfindlichsten Stelle packt und ihn so gründlich daran zerrt, daß er in ein entsetzliches Wutgeheul nusbricht. Schon zum zweitenmal hat Lueien Deseaves bei den Franzosen die Stelle des Reineke vertreten und diese haben nicht ermangelt, beide Male wütend zu schreieu. Bor wenigen Tagen wurde ein Stück von Deseaves und Marien im «MiMUs Ulme» aufgeführt, das während des letzten Krieges in Versailles spielt und die Feigheit gewisser Philisterkreise scharf zu geißeln unternimmt. Darf man den Berichten der Zeitungen glauben, so hat daraufhin das Premidrenpublikum, nachdem der Vorhang gefallen war, eine halbe Stunde lang gebrüllt. Dem gegenüber ist denn doch die Berliner „Freie Bühne" noch der reine Waisenknabe geblieben. Auch der vorliegende Roman hat bei seinem Erscheinen Geschrei genug erregt; ja Deseaves ward, wie bekannt sein dürfte, vor Gericht gestellt, aber freigesprochen. Das wäre freilich kein Grund für einen ästhetischen Gerichtshof, ihn nicht zn verdammen. Indessen, mögen wir uns noch so sehr sträuben: der tief-ernste, bitter-sachliche Ton des Mannes fesselt uns, je länger wir lesen, und schließlich legen wir das Buch nicht ohne Erschütterung aus der Hand. Daß Deseaves die Welt, die er schildert, außerordentlich scharf beobachtet hat, braucht ja kaum mehr hervorgehoben zu werden; bemerkenswerter ist schon, daß sein Blick nicht am
rein Physischen haften bleibt, vielmehr steigt er mitunter weit hinab in die Tiefen und Untiefen der Seele. Es kann nicht geleugnet werden, daß die häufige Wiederkehr derselben schmutzigen Situationen, derselben jämmerlichen Gestalten eintönig wirkt, daß, wie bei seinem großen Lehrer Zola, so auch bei Deseaves die lichten Gestalten fast ganz fehlen; aber hoch au- zuerkennen ist doch die Kunst, mit welcher der Dichter uns seine Gestalten, seine gemeinen, habgierigen, lüsternen Unteroffiziere, seine häßlichen Soldatendirnen, die uns zu Beginn des Romans ordentlich abstießen, immer näher und näher bringt, bis wir sie ganz verstehen und — es muß nochmals zugestanden werden — wir ergriffen werden vou dem Geschick dieser Ärmsten.
Deseaves erweist sich in den 8on8-Oll'8 als ein vorzüglicher objektiver Satiriker; d. h. er zeigt fast niemals irgendwelchen Anteil, den er an der Sache, die er vorträgt, nimmt, er berichtet kurz und trocken; und doch wirken solche anekdoteu- artige Charakteristiken in der That wie wuchtige Keuleuschläge. Zwei solche Stellen, die auch außer dem Zusammenhang der Handlung sofort verständlich sind, seien hierher gesetzt. S. 199: „Übrigens genoß das Regiment Nummer 167 seit einiger Zeit eines sehr üblen Leumundes. Ein anderer Soldat, der als solcher nicht viel wert, dagegen in Wirklichkeit krank war, fand sich seit einer vollen Woche täglich bei der Krankeuvisite ein. Anfänglich weigerte sich der Stabsarzt, ihn für krank zu erklären, und schließlich untersuchte er ihn gar nicht mehr, da der Mann im Rapport „Simulant" genannt wurde. Seine Hartnäckigkeit trug ihm regelmäßig vier Tage Stubenarrest ein. — «Wir wollen doch sehen, wer von uns beiden früher müde wird,» sagte der Hauptmann. Der Soldat wurde früher müde. Eines Morgens fand man ihn tot in seinem Bette."
Seite 207 ist von einem andern Hauptmann die Rede. „Er überließ sämtliche Arbeiten Favieres (einem Unteroffizier), der bei seinem Kompaniechef, dessen Sekretär er war, überdies in hohem Ansehen stand. Es traf sich mitunter, daß der Hauptmann persönlich einen Rapport abzufnssen hatte. Ersetzte sich alsdann, den Säbel zwischen den Knieen, seinem Fourier gegenüber nieder, blickte die Zimmerdecke an, wie um von derselben seine Inspiration zu erhalten, und sagte daun mit einemmal: „Diktieren Sie mir doch — — Es wird rascher gehen — —" Und von Zeit zu Zeit unterbrach er sich, wenn ihm irgend ein Wort Schwierigkeiten bereitete:
„Ein r, zwei p, wie?"
„Pardon, Herr Hauptmann, ein p und zwei r."
„Dacht' ich nur auch; dauke. Fahren Sie fort." —
Bedauerlich ist es, daß das Buch iu der deutscheu Ausgabe unbestreitbar recht uufeiu wirkt; besonders trägt dazu der grell-grüne glanzpapierene Umschlag bei. Ein Werk, bei dem der Naturalismus so tief innerlich sitzt, sollte wenigstens den Augen und Händen nicht wehe thun. — Die Übersetzung des Herrn Ludwig Wechsler ist teilweise mit einer wahrhaft sträflichen Leichtfertigkeit gemacht: S. 5: „ungefähr betrunken sprach er mit sich allein;" S. 22: „als jeder mit seiner respektiven Beschäftigung zu Ende war;" S. 111: „in seinem Zimmer ward er von einem Schwindel erfaßt, als würde er noch immer bei den Tönen der barbarischen Musik walzen:" S. 174: „die Unteroffiziere grüßten ihnen mit einem Blicke;" S. 199 wird das Regiment „geschindet;" S. 243 heißt der Imperativ von nehmen: „nehme" und S. 245 kommt zu guter- letzt das schlimmste Beispiel aus unserer erbaulichen Blütenlese: „Wird Tötrelle kommen?" fragte Favwres von Chuard." Faviöres ist der Fragende, Chuard der Gefragte, ein Unteroffizier, dein es nicht einfüllt, adlig zu sein; das „vou" ist eine einfache Übersetzung des französischen «cke!» Das ist denn doch eine Schande!
* Militärischer Roman von Lncien Deseaves. Ans dem Französischen nberschl von Ludwig Wechsler. (Budapest, Gustav Grimm 18 V 0 .)