Heft 
(1889) 40
Seite
662
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Deutschland.

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liebe zu verschieben, und diese Entwicklung heit noch eine end­lose Zukunft vor sich.

Dazu tritt der mechanische Einfluß des Denkens auf das Handeln. Der Wille ist gewissermaßen nur eine Steigerung des Verstandes, und die That nur eine Steigerung des Willens. Allgemein ist das Bedürfnis, die Ergebnisse des eigenen Den­kens durch ein entsprechendes Handeln erst zu vervollständigen. .Kein Philosoph hat sich noch mit dem bloßen Denken begnügt, sondern jeder hat eifrig über der Ausbreitung seiner Lehre ge­wacht; nicht nur weil sie die seine war, sondern weil er von ihrem Siege eine Besserung der Menschheit erwartete. Sv ersetzt die Denkthütigkeit bis zu einem gewissen Grade die Wir­kung des unbewußten Triebes. Die Sittenlehre wirkt als be­wußter Willensantrieb im Einzelnen weiter, vielleicht in den meisten Fällen minder ungestüm und gewaltsam, vielleicht auch minder unwiderstehlich, jedenfalls aber mit sicherer Richtung auf die Wohlfahrt der Gesamtheit, des Nächsten nnd des Ein­zelnen. Wer sich beim Anblicke eines Ertrinkenden kopfüber in das Wasser stürzt, hat die größte Aussicht, sich einen Lungen­schlag zu holen oder von dem Ringenden mit auf den Grund gezogen zu werden; wer sich im Bewußtsein seiner Hilfsver- pflichtnng bedächtig einen Kahn und eine Stange besorgt, wird den Gefährdeten retten, ohne sein Leben mit auf das Spiel zu setzen. Aber seiner Verpflichtung muß er sich eben bewußt sein, und dieses Bewußtsein kann ihm nur die Überzeugung von dem Werte der Pflicht geben; eine Überzeugung, welche er wieder nur durch Überlegung auf den Grundlagen des sittlichen Lebens gewinnen kann. Es ist Pflicht der Erziehung und der Schule, dafür zu sorgen, daß er diese Überzeugung gewinnt, nnd das kann nur durch einen ethischen Unterricht geschehen, der heute noch nicht auf dem Lehrplane steht.

Auch unser Gefühlsleben trügt dazu bei, die Nachteile ab- znschwächen, welche ans dem Schwinden des inneren Zwanges für das sittliche Leben erwachsen könnten. Die Gefühlswelten der Einzelnen sind in beständiger Annäherung begriffen, und greifen immer weiter ineinander über. Die Lnstempfindnngen höherer Art sind zugleich leichter zugänglich, länger andauernd und mehr innerlicher Natur, nnd alle zugleich allgemein mit­teilsamer. Kunst und Wissenschaft können ihrem Wesen nach von allen genossen, wenn auch nicht von allen ausgeübt werden, nnd ihr gemeinsamer Genuß eint die Einzelnen ebenso leicht nnd schnell wie der Versuch gemeinsamen Genusses sinnlicher Lnstempfindnngen sie entzweit. Auch auf diese hat sich indessen schon das Gefühl der Gemeinsamkeit übertragen, das den er- steren ausschließlich innewohnt. Eine einsame Mahlzeit mundet uns nie so gut wie eine gemeinsame, bei der unsere Teilnahme an den Teilnehmern den Genuß der dargebotenen Leckerbissen erhöht. Hierzu kommt, daß der Reichtum an Gefühlen und Gedanken und die Freude an beiden, die höchstentwickeltes Geistesleben anszeichnen, auch eine entsprechende Gemeinsamkeit beider im Gefolge haben. Auch das Verständnis für das geistige Leben der Nächsten ist mit dem Gedeihen des eigenen gestiegen und zwingt uns, auch dieses überall mit in Rechnung zu ziehen.

Zn diesen Ersatzmitteln tritt als letztes der Wagemut, die Lust am Kampfe und an der Gefahr, welche sogar eine Auf­opferung des eigenen Selbst auch ohne Zuhilfenahme übersinn­licher Hypothesen ermöglicht. Der Wagemut ist eine bekannte Erfahrung, die in aller lebenden Welt eine Rolle spielt: er­zählen doch die Reisenden von den wagehalsigen Spielen, welche die Affen über tropischen Strömen mit dem offenen Rachen der Krokodile vollführen; sie bilden von beiden Ufern eine Kette, deren lebendes Mittelglied das hungrige Reptil schaukelnd und tanzend neckt, bis es zuschnappt, meistens ins Leere, manchmal auch in die dargebotene Hand. Ihre Erklärung findet der Wagemut in der Thatsache, daß eine erhoffte Lust eine ge­fürchtete Unlust immer aus dem Felde schlügt, wenn keine von beiden völlig sicher in Aussicht steht; die Siegeslust ist aber ein so starkes nnd berauschendes Gefühl, daß selbst die Todes­furcht ihr nicht die Wage halten kann. Der Mensch will sich einmal groß fühlen, wäre es auch nur fiir einen Augenblick,

nnd müßte er diesen Augenblick mit seinem Leben bezahlen. Wie man sieht, hat dieser Trieb kein bestimmtes Ziel und kann unterschiedslos in den Dienst der verschiedensten Zwecke treten; so handelt es sich also nur darum, ihn durch die Vernunft zu zügeln und für das Gemeinwohl zu nützen. So ist die psy­chologische Thatsache, daß die gesammelte Stärke eines Genusses die Gesamtheit des Lebens in der Vorstellung des Einzelnen liberwiegen kann, die Handhabe für eine natürliche, im Selbst des Einzelnen wurzelnde Opferwilligkeit. Der Offizier, der auf einem anvertrauten Posten angegriffen wird, den er auf das äußerste verteidigen soll, sieht vor sich ein Leben in Schande oder einen Tod in Ehren, und er wühlt den letzteren, weil ihm das erstere unerträglich dünkt. Andererseits denken die Nordpolfahrer nnd Afrikareisenden nicht an die Möglichkeit ihres Unterganges, sondern an die Ehre ihres Erfolges nnd an den Gewinn, den dieser gewissen hochgeschützten Borstellungs­gütern, wie der Wissenschaft oder dem Vaterlande bringen muß, und gehen mutig dein ungewissen Ansgange entgegen. Das Leben hat einmal keinen bestimmten, meßbaren Wert und schützt sich nach dem, was der Einzelne von ihm erwartet: glaubt er nichts erwarten zu dürfen als Schmerz oder Schande, so ist er gern bereit, es dahinzugeben. Einst warf sich ein Fremder in Paris zwischen einen tollen Hund und einige spielende Kin­der; er streckte das Tier zu Boden, aber erst, als er einige Bisse erhalten hatte; als man ihn verbinden wollte, wehrte er ab und sagte, er wäre das Leben leid, er wollte sterben. Sv sollten alle Selbstmorde Opfertode Lebensmüder sein: im vori­gen Jahrhundert ließen diese sich anwerben, nur ihren Zweck zu erreichen, ohne gerade Hand an sich zu legen.

Als eine Abart dieses Wagemutes ans rein geistigem Ge­biete erscheint der Glaube im engeren Sinne, der Glaube an eine unbeweisbare, aber den Hoffnungen des Einzelnen entspre­chende Annahme betreffs des Zusammenhanges der natürlichen mit einer sittlichen Weltordnnng. Dieser Glaube ist aber auch ein Wagnis. Wer an ein Leben nach dem Tode, oder an eine Wesensgleichheit des unerkennbaren Grundes der Erschei- nnngswelt mit einem Willen glaubt, muß doch eingestehen, daß diese Überzeugung nur ein Glaube ist, der sich auf dem Wege des erfahrungsgemäßen Denkens nicht beweisen läßt; aber jedenfalls muß man ihm eingestehen, daß ein solcher Glaube ein wertvoller Antrieb zu sittlichem Handeln werden kann. Der Mensch wird nie anfhören, über die Grenzen der Erfahrung hinaus eine sittliche Ordnung in die scheinbare Willkür, einen liebenden Willen in die scheinbare Gleichgültigkeit der Natur hineinzutragen, weil er nach seiner ganzen Anlage nicht anders kann; darum wird diese Stütze der Sittlichkeit auch nach dem Erlöschen des sittlichen Triebes nie den Dienst versagen. Auch der sogenannte Materialismus überschreitet die Grenzen aller Erfahrung, sogar schlimmer als es der Idealismus je ver­möchte; auch er ist nur eine Annahme nnd wird von seinen Verfechtern im Sinne einer sittlichen Weltordnnng gedeutet, die nur mit der natürlichen irgendwie znsammenfiele; was ebenso unbeweisbar ist, wie die Dogmen der christlichen Kirche. Der himmlische Vater läßt seine Sonne anfgehen über Gute und Böse, nnd läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Hiob verliert alles, was er hat und liebt, und ist doch der Gerechten einer, nnd seine Prüfung bringt ihn zu der Einsicht, daß die Tugend eben nur für den Menschen und nicht für das Leben, nicht für die leblose Natur gelte, daßdie Seligkeit in der Tugend selbst bestehe, nnd nicht der Lohn der Tugend sei," der herrliche Satz, in dem auch Spinozas Ethik gipfelt.

<l>6:rtitiull> non 68t prnenriuirr virtutm, 86(1 vii't>>8 ip8rr.) Jede Annahme, die darüber hinausgeht, ist nur eine Bestäti­gung des erwähnten Satzes, daß der Mensch lieber hofft als fürchtet. Alle spekulative Philosophie gründet sich zuletzt auf eine solche Hoffnung, die sie mit dem jeweiligen Stande der Erfahrung in Einklang zu bringen sucht, jede enthält mehr oder minder versteckt einen Glauben, der keiner Beweisführung Stich hält, aber stärker als alle Beweise ans das Handeln der Gläubigen wirkt.