Heft 
(1889) 43
Seite
712
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Deutschland.

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verlassen ist. Aber über gewisse Grnndzüge der Organisation unserer Rasse, wie sie eben unter der Perspektive der -ans naturwissenschaftlicher Basis stehenden vergleichenden modernen Ethnologie entdeckt sind, kann heutzutage kein Zweifel mehr aufkommen, um so weniger, als sich die entsprechenden Berichte und Thatsachen in den verschiedensten ethnographi­schen Annalen mit merkwürdiger Übereinstimmung gegenseitig stützen oder gar unmittelbar decken. Einer der rührigsten Arbeiter auf diesem Felde der vergleichenden Rechtswissenschaft ist A. Th. Post, nebst Köhler unter den Deutschen wohl an erster Stelle zu nennen, der neuerdings wieder die Ausgestaltung des Familienlebens einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen hat. (Studien zur Entwickelungsgeschichte des Familienrechts. Ein Beitrag zu einer allgemeinen vergleichenden Rechtswissenschaft ans ethnologischer Basis, Oldenburg 1890.)

Unser Gewährsmann verspricht sich zunächst nicht viel von den blen­denden Theorieen, die vielfach mit überraschender Schnelligkeit sich über Nacht erhoben, um dann natürlich ebenso rasch wieder zu verschwinden; im Gegenteil meint er sehr nüchtern:Was in dieser Beziehung von der Wissenschaft geboten ist, gleicht eigentlich nur einem großen Trümmer­haufen. Auf verhältnismäßig geringem ethnologischen Material sind die luftigsten Hypothesen aufgebaut, welche von den jedesmaligen neuen Bearbeitern des Gebietes mit großer Leichtigkeit wieder nmgestürzt sind, und es ist wohl nicht zu hoffen, daß die jüngsten Arbeiten dem Schick­sale der älteren entgehen werden. Bestimmte Institutionen aus der Zeit der Geschlechterverfassung und des Geschlechterrechts sind allerdings voll­ständig sicher gestellt; aber die Beziehung derselben zu einander, die Ein­ordnung derselben in eine bestimmte Entwickelungsgeschichte ist noch nach allen Seiten unsicher. Dies wird auch so bleiben, bis ein weit umfang­reicheres ethnologisches Material herbeigeschasft ist, als es bis jetzt vor­liegt!" (S. 4.) Die Anordnung des Stoffes, wie er hier verarbeitet ist, hält sich nicht an irgend welche ethnographische oder historische Grenzen, sondern nur an die Entwickelung der verschiedenen rechtlichen Erscheinun­gen selbst, einerlei wo und wann dieselben auftreten. Es ist gegenüber vielen Einwendungen und Bedenken nämlich immer wieder nachdrücklich zu betonen, daß gerade die Thatsachen des sozialen Lebens der Mensch­heit von einer so universellen Tragweite sind, daß jede sonstige Rubri­zierung und Isolierung, wie sie der Historiker, Ethnograph oder Linguist anzuwenden pflegt, hier versagt. Mit vollem Recht bemerkt deshalb Post:Sprachgrenzen, Religionsgrenzeu, ja irgend welche sonstige ethno­graphische Grenzen sind für das Nechtsgebiet nicht maßgebend. Die Rechtssitten überschreiten alle diese Grenzen rücksichtslos. Geographische Grenzen sind nur insoweit für die Rechtssitten bedeutungsvoll, als lokale Abweichungen auf letztere zweifellos einwirken; soweit dagegen die Rechts­sitten auf der allgemeinen menschlichen Eigenart beruhen, sind auch die geographischen Grenzen gleichgültig. Es wird schließlich möglich sein, so gut ein System des Nniversalrechts zusammenzustelleu, wie ein System der sämtlichen deutschen Partikularrechte. Ein solches System würde die sämtlichen ethnologisch-juristischen Parallelen aufreizen und zugleich die sämtlichen Varianten, welche die Rechtsnormen bei den ein­zelnen Völkern erleiden, und damit würden alle jene Punkte fixiert sein, an denen die wissenschaftliche Forschung ansetzen könnte, um jene geheim­nisvollen sozialen Gesetze aufzufinden, welche zweifellos auch das Rechts­leben der Menschheit beherrschen." (Vorr. S. V.) Von den Ent­deckungen nun, mit denen uns die neuere Völkerkunde beschenkt hat, er­wähnen wir an erster Stelle das Matriarchat, das genaue Gegenbild des bislang häufig noch als älteste Form der Familie betrachteten Pa­triarchates. Während früher entweder alle Nachrichten dieser Art kurzer­hand verlacht (so bei Herodot) und völlig ignoriert wurden oder aber die Institution als Entartung aus anderen Gebilden gedeutet wurde, ergaben plötzlich die übereinstimmenden Analogieen aus den verschieden­sten Erdteilen, ganz besonders aber die genauere Erforschung des malayischen Archipels, daß wir es hier mit einer uralten Form des ehe­lichen Lebens zu thun haben. Der Verfasser charakterisiert sie an Hand des verdienstvollen holländischen Ethnographen Wilken folgendermaßen: Die Mntterfamilie setzt sich zusammen ans den Geschwistern, welche von einer gemeinsamen Mutter abstammen. Das Haupt dieser Familie ist gewöhnlich der älteste Bruder. Dieser gilt als Vater der Kiuder seiner Schwestern, während die Kinder seiner Brüder in die Familien fallen, denen die Frau angehört, welche sie heiraten. Der Vater ist daher bei

dieser Art der Familie niemals seinen leiblichen Kindern Vater, sondern stets den Kindern seiner Schwester, deren Väter wieder nicht diesen Väter sind, sondern den Kindern ihrer Schwestern. Die Kinder gehören allemal in die Familie ihrer Mutter, nicht in die ihres Vaters. Ein Vater in dem Sinne, in welchem wir das Wort gebrauchen, ist also bei dieser Art der Familie überhaupt nicht vorhanden, sondern er wird ersetzt durch ein anderweitiges Familienoberhaupt, für welches unsere Sprache kein Wort besitzt. Die Menaugkabanscheu Malayen auf Sumatra, bei denen die Mutterfamilie in der eben beschriebenen Gestalt noch heutzu­tage besteht, nennen ihn mamag." (S. 48.) Das ist auf den ersten Anblick geradezu verblüffend und widerstreitet so sehr allen unseren ge­läufigen Anschauungen, daß man Not hat, sich in den hier maßgebenden Gedanken ganz hineiuzufinden, und doch stellt sich aller Wahrscheinlich­keit nach (vbschon die Akten über diesen Punkt noch nicht geschlossen sind) in diesem Gebilde die Urzelle jeder weiteren Entwickelung dar. Aber wenn es auch den überzeugten Vertretern der Priorität oder gar alleini­gen Gültigkeit des Patriarchats auf die Dauer schwer fallen sollte, ihren Widerstand gegen die unbestechlichen Zeugnisse der heutigen Volkeskuude aufrecht zu erhalten, so können wir doch den vielfach aus dem System des Mutterrechts gezogenen Schluß von einer allgemeinen geschlechtlichen Promiskuität der Urzustände nicht teilen. Zuzugeben ist freilich, daß sie gelegentlich (z. B. bei den Nairs an der Malabarküste) vorkommt; aber das beweist eben nicht ihre universelle Geltung. Zunächst muß man nicht vergessen, wie außerordentlich dürftig unsere Kenntnisse im Grunde genommen gerade über die Urzeit sind, von welcher freilich manche neuere vertrauensselige Forscher viel zu berichten wissen. Sodann ist eben immer wieder zu beachten, daß alle damit zusammenhängende Erschei­nungen, wie Gruppen- und Hordenehen, rein lokaler Natur sind. Ob man aus ihnen auf eine Promiskuität als allgemeinen Ausgangspunkt für das ganze eheliche Leben der Menschheit zurückschließen kann, halten wir deshalb mit Post für durchaus zweifelhaft. Es kann hier begreif­licherweise nicht unsere Absicht sein, den Inhalt des vorliegenden Werkes auch nur in groben Umrissen wiederzugeben dazu ist das Material viel zu umfassend aber ans zwei für die Entwickelung der Familie besonders wichtige Momente möge noch kurz hingewiesen werden. Das eineist die durch die ganze Struktur der ältesten Geschlechtsgenossenschaften bedingte Blutrache, die deshalb auch einen tiefernsten, sittlichen Charakter trägt. Es ist nicht die frivole Mord- und Zerstörungslust, die sich darin offenbart, wie man wohl gemeint hat, sondern umgekehrt eine der wesentlichsten Garantieen für den Bestand und die Wohlfahrt des sozialen Lebens primitiver Stämme. Freilich (und das ist für den kommunisti­schen Zug jener Organisationsformen sehr bezeichnend) richtet sich die Rache nicht gegen den Störer der Rechtsordnung in unserem Sinne, sondern wesentlich gegen den ganzen Stamm, dem der betreffende Misse- thäter angehört, und deshalb ist es auch ganz gleichgültig, ob gerade der eigentlich Schuldige von der Vergeltung ereilt wird oder irgend ein anderer Stammesgenvsse. Aber wie tief doch diese Pflicht empfunden wird, das zeigt der Umstand, daß manche Völkerschaften überhaupt keine Kompensation anerkennen. Sobald jedoch die ursprüngliche Geschlechtes­verfassung sich zersetzt und durch die Berührung mit anderen Stämmen die älteste Basis des sozialen Lebens, die Blutreinheit, ihre fundamen­tale Bedeutung mehr und mehr verliert, verschwindet auch die Blutrache, die sich dann nur noch in einzelnen symbolischen Überbleibseln späteren Geschlechtern vererbt. Die zweite Erscheinung, die auch mit dem Zeit­punkt einsetzt, wo die frühere Isolierung der in endogener Ehe leben­den Stämme mehr und mehr aufhört, ist die bekannte, auch durch viel­fache Sagen des Altertums uns überlieferte Sitte des Frauenraubes. Unser Verfasser bemerkt:Die außerordentlich weite Verbreitung der Raubehe in ihren verschiedenen Formen läßt den Schluß fast unaus­weichlich erscheinen, daß der Raub unter bestimmten Organisationsformen die regelmäßige Art war, um zu einem Weibe zu gelangen." (S-138.) Ja diese Form gewinnt gelegentlich eine derartige gesetzmäßige Bedeu­tung, daß es umgekehrt als Rechtsbrnch erscheint, dem Räuber das ge­raubte Mädchen wieder wegzunehmen, und anderseits der Räuber sich ihrer nicht wieder entledigen darf. Wie im Verlaus der Zeit dann der anfängliche Ernst des Aktes sich nach und nach verliert und ein reines Scheingefecht als Symbol des früheren Geschlechterkrieges übrig bleibt, ist zu bekannt, um weiter erörtert zu werden. ^obelis.

Verantwortlicher Redakteur: Fritz Mauthner in Berlin V., Frobenstraße 33. Druck und Verlag von Carl Flemming in Glogau.