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Deutschland.
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drinnen konnten durch die grünen Eiswünde nicht hinaussehen in das Gewühl der alltäglichen Menschen. Er aber blickte in den Saal und erkannte nach Holzschnitten, Photographieen, Marmorbüsten und Erzstatuen die großen Dichter seines Volkes; auch verstorbene Freunde sah er. Und sie beratschlagten über seine Unsterblichkeit.
Goethe. . . . Und just wegen dieses erfreulichen Nach- folgens bin ich gegen seine Zulassung. Sein Stil zeigt eine bedeutende Gegenständlichkeit, wie man sie von mir wohl lernen konnte; aber diesem behaglichen Vorzug des Alters war keine eigene Jugend vorausgegangen. Er war nie Eigenmost, war nie absurd.
Lessing. Lieber Herr Geheimrat, daß er Ihren Altersstil nachahmte, war freilich schlimm, und es ist mir lieb, daß Sie ihm das als Fehler anrechnen. Ach, hätten Sie doch zu meinen Lebzeiten schon so geschrieben, so eisiggut, so fehlerhaft fehlerlos, so bedeutend auch im Unbedeutendeil, wie Hütte ich Sie gezaust! Was aber diesen Gottfried Keller anbetrifft, so bin ich für seine Zulassung. Es ist mehr all ihm als die Goethcsche Sprache. Er hat etwas, was wir zu meiner Zeit noch nicht kannten, was auch Sie noch nicht kannten, Herr Geheimrat, was ich wohl ahnte, was ich aber selbst nicht mit einem Worte bezeichnen konnte, nicht gestalteil und nicht erklären. Er lacht statuarisch. Er lacht, wie eine griechische Bildsäule lachen müßte, wenn sie dürfte. Er lacht wie wir lachen, seitdem wir selig sind.
Heine. Ich glaube doch, das hätte ich auch schon ein wenig . . .
Goethe. Schweigen Sie, Heine! Sie können froh sein, daß wir, unbeirrt von Parteileidenschaften, Ihr unsterblich Teil gerettet habeil und nicht Preisgebell. Gegen diesen Keller aber spricht auch der geringe Umfang seiner vorzüglichen Werke. Denn seine Gedichte — um nun gleich dieses nicht zu verschweigen — haben alle irgendwie eineil Mangel . . .
Schiller. Wahr ist es! Es fehlt was, der Schwung, die Musik, etwas!
Goethe. Sein großer Roman „Der grüne Heinrich" ist nur mühsam zu Ende geführt, seine Alterswerke zeigeil Spureil von Schwäche, und selbst die „Züricher Novellen" leiden an kleinen persönlichen Schrullen. Bleiben also nur die allerdings göttlichen „Leute von Seldwyla" und die „Sieben Legenden," welche ich mir erst gestern wieder von Eckermann habe vorlesen lassen.
Heine. Und so hat es der gute Keller unterlassen, es mit Hilfe von einigen Bünden Farbenlehre, von Jahres- und Tagesheften vierzig Folianten . . .
Bischer. Schweigen Sie, Heine! Aber diesmal hat Heine recht. Glauben Sie denn, mein teurer Goethe, daß Sie mit allen Ihren vierzig Bünden oder gar mit den hundert Bünden Ihrer neuesten Ausgabe in die Unsterblichkeit Angegangen sind? Haben denn Ihre Alterswerke keine Schrullen? Haben Sie Ihren Wilhelm Meister nicht auch mühsam zu Ende geführt? Donnerwetter noch einmal . . .
Goethe. Ich muß diesen unschicklichen Ausdruck. . .
Lessing. Na, na.
Bischer. Ich bin hier der Jüngste und möchte nicht unbescheiden austreten. Wenn aber Gottfried Keller nicht hierher gehört, so setzen Sie sich lieber gleich auf den Aussterbe- Etat und machen Sie nach Goethes Tode einen dicken Strich unter die Literaturgeschichte. Gottfried Keller ist ein Großer, ist ein Ganzer, Vollblut.
Goethe. Schreiten wir zur Abstimmung.
Gottfried Keller (durch das Fenster hereinsprechend). Meine lieben Herren, ich danke Ihnen für die gute Meinung; aber es wäre zu viel Ehre für mich. Es wäre mir zu kalt in Ihrem Eispalast. Die meisten von Ihnen waren Schriftsteller, herrliche, unsterbliche Schriftsteller, aber doch arme Schriftsteller, die ihr edles Gehirn zermarterten, um ihre Ideen zu formen, die außer ihrer Zeit waren, und um doch zugleich von der Masse verstandeil zu werden, mit der sie lebten. So
ein armer Schriftsteller oder Dichter, der mit den Göttern aufsteht und mit Lohnschrcibern um einen Bissen Brot streitet, der für die Nachwelt denkt, aber für sein Leben die Anerkennung seines Bäckermeisters braucht, der im Himmel wohnen muß, weil die Erde bis auf das letzte Fußbreit Afrikas hin- weggegcben ist, so ein armer Schächer bin ich nie gewesen. Ich will ein Haus weiter gehn, vielleicht finde ich anderswo die Gesellschaft, mit der sich ein Schöppchen trinken läßt.
Keller schritt fürbaß, und Goethe gesellte sich eilig zu ihm.
Goethe. Es wäre mir lehrreich, Ihre Gedanken auf den Grund zu hören.
Keller. Aber, lieber Herr, Sie sind ja auch so einer gewesen, Sie waren ja auch so etwas wie Staatsschreiber, haben Ihre Lust daran gehabt, sich und die kleine Welt, die Sie umgab, weiter zu bilden, und nur so ganz nebenher etwas Schönes zu schreiben.
Goethe. Gewiß; aber dabei bilde ich mir ein, zu der Zunft der Schriftsteller und Dichter zu gehören. Sie aber wollen eine besondere Stellung...
Keller. Im Gegenteil, ich will nichts für mich extra. Ein Mensch bin ich, und als Mensch will ich gelten, nicht als Wundertier. Mit Baumeistern möchte ich zusammensitzen, wissen Sie; mit Leuten, welche einen Dom oder ein Reich oder sonst etwas Bleibendes aufgerichtet haben. Wir beide sind doch im Leben nicht müßig gewesen, wie richtige Schriftsteller.
Goethe. Kommen Sie doch mit mir zu den Freunden, die etwas gebaut haben; ob man uns dort wohl als Meister begrüßen wird?
Goethe und Keller betraten das Haus der unsterblichen Baumeister. Friedrich der Große begrüßte sie dort mit grimmiger Freundlichkeit. „Skribenten?" rief er. „Deutsche Skribenten? Seid was geworden, Jungens; aber was wollt Ihr hier? Bei ernsthaften Leuten?"
Keller trug seinen Wunsch vor, mit Friedrich und Erwin an einem Tische zu sitzen. Die Meister sahen einander fragend an. Da erhob sich Michel Angelo, der der eigenwilligste unter diesen Architekten und Königen war, und führte die Dichter in den Garten des Architektenhauses. Dort standen die duftigsten Blumen und die schattenreichsten oder auch fruchtbarsten Fabelbüume bereit, wenn die Meister sich erholen wollten. Michel Angelo aber sprach: „Ihr seid keine richtigen Baumeister, Ihr wäret sonst keine solchen Dichter gewesen. Wenn es Euch aber genügt, in unserem Garten zu stehen und uns zu erfreuen gleich den Blumen und Bäumen, so sollt Ihr uns willkommen sein."
Goethe kehrte stolz nnfgerichtet in den Eispalast zurück und übernahm ruhig wieder den Vorsitz der unsterblichen Dichter. Gottfried Keller aber blieb aufrecht im Garten der Baumeister und Könige neben einer Riesenpalme, und er wurde der Lieblingsdichter der Baumeister und Könige.
Kleine Kritik.
Zur Entwickelungsgeschichte der menschlichen Familie. Je mehr das ursprünglich ans den engen biologischen Bezirk beschränkte Problem der Entwickelung auch ans das geistige Wachstum der Menschheit Anwendung findet, desto fruchtbarer gestaltet sich die ganze dadurch bedingte Weltauffassung überhaupt. Gilt es doch letzten Endes, das Walten großer, unverbrüchlicher Gesetze, darzuthun, die mit derselben Notwendigkeit im sozialen Leben der Menschheit herrschen, wie die Physikalischen im Naturreiche. Zwar soll nicht in Abrede gestellt werden, daß die Zeit noch ferne ist, wo dieser Beweis als ein wissenschaftlich erbrachter betrachtet werden kann; vielmehr hat sich leider wieder die für uns Deutsche so verhängnisvolle Spekulation der Forschung bemächtigt, so daß damit die unanfechtbare exakte Methode der Induktion wieder