Heft 
(1889) 43
Seite
710
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Seite 710.

Deutschland.

M 43.

Und ein Jucken durchfuhr sie, just in der Nähe des dicken Zehs, unter der Sohle des linken Fußes. Und es durch­rieselte sie ein Schauer, wie von dampfenden Weinen und bro­delndem Schnee. Und sie kostete den Schmerz. Sog ihn in sich mit langen, verschmachtenden, durstigen Zügen. Trank ihn mit Gier und mit werbender Brunst, die in Flammen auf­schlägt, wenn der Sturmwind daherfährt, und das Rohr knistert im Winde, und das Schilf flüstert im Mondschein, und ein grünlich-blauer Dunst liegt über der rötlich schimmernden Erde, und darüber breitet sich ein stahlblauer grauer Himmel, und darunter jagt der Habicht die Taube, und die Elfen tanzen in der Sonne.

Das mußte sie malen.

Es überkam sie wie eine Offenbarung.

Aber festhalten mußte sie das Bild. Es dürft' ihr halt nimmer entfliehen. Und sie griff in die Luft mit haschenden, schnappenden Händen. Und sie suchte das Bild, das vor ihr schwebte und neckische Purzelbäume schlug, sie suchte es zu umklammern und an sich zu ziehen, an ihre Brust, die stürmte und schnaubte und hämmerte, und daraus der Atem ent­wichen war.

Und sie rannte und rannte und rannte. Sie raunte, daß ihr die Locken flogen und der Schweiß ihr in Strömen her­niedertroff, daß er zu einem Bache anschwoll, der plötzlich als ein dumpftosendes, hochgehendes Gewässer sich seeartig, wie ein violetter Sumpf, vor ihren Füßen ausbreitete. Und sie wußte nicht, ob sie zurückschauern sollte, oder sich Hineinstürzen in die kühlen, labenden Fluten; sie, die da schmachtete und sich härmte und sich harbte nach Wahrheit.

Wahrheit?

Giebt es denn eine Wahrheit?

Hat Wahrheit noch Gültigkeit, ün cke sieels?

Was soll heutzutage uns, den Deeadents, die Wahrheit?

Oder die Schönheit?

Oder die Häßlichkeit?

Lüge ist alles. Die Lüge ist das einzig Wahre. Die Lüge ist das einzig Schöpferische. Denn die Welt ist Lüge. Und wie die Welt, so muß auch die Kunst sein. Die große, die neue, die unermeßliche, die riesenstarke, die umnebelnde, die erstickende, die erwürgende, die allbefreiende, die entfesselnde, die von goldenem Schinutz bespritzte, die keusche reine engel- weiße, die unanbetbare ewig anbetungswürdige, die crd- gefesselte himmelstürmende, sie, die Kunst, die sie suchte, die sie finden mußte.

Und sie rannte und rannte und rannte. Sie rannte, weil sie eine Peitsche hinter sich fühlte, die mit fürchterlichem, ent­nervendem Klatschen auf ihren blaugeschwollenen, von gelben Striemen überzogenen Nacken prasselte. Und die Furien singen an zu kichern, und sie henkten in dem Kichern, und sie schneuz­ten sich mit ihren Schlangenhaaren. Und es war ein Schwefel­dampf, der anfstieg. Und er erfüllte die ganze Erde. Und es war kein Grashalm, der nicht erfüllt gewesen wäre von diesem Schwefeldampf.

Da geschah es.

Es geschah wirklich.

Sie rannte gegen ihn. Gegen den langen Herrn in dem gelben Überzieher und mit dem grauen Cylinder und den vio­letten Hosen. Mit ihrer vordersten Stirn rannte sie gegen ihn. Rannte gegen seinen Rücken, dort wo er sich senkt und sich bescheiden lagert zwischen zwei Hüften. Und plattlings schlug sie hin.

Sie schlug hin, sitzlings, hinterrücks, kopfunterwürts. Und sank in eine tiefe Ohnmacht.

Und als sie wieder erwachte, da war sie eine ganz andere.

Eine ganz andere ....-

Gottfried Keller 4-

Ein Totengesprüch.

Von

I. M-

s war Heller Tag, als das Sterben über Gottfried Keller von Zürich kam. Für die Zeugen der letzten Augen­blicke war er nicht mehr bei Bewußtsein. Es war aber noch etwas wach in ihm. Er hatte noch einmal einen schönen, feinen Einfall, über welchen die Seele lächeln mußte. Die Seele wollte den Einfall zu Ende denken. Da lächelte sie wieder, aber diesmal über sich selbst. Wozu noch denken? Für wen? Für Gottfried, der nicht mehr zuhörte? Für die Leute, für die sie nie gedacht und gedichtet hatte?

Er starb, und seine Seele machte den großen Flug hin­über. Für die Zuschauer war es ein bläulicher Blitz, der im Nu durch wolkenlosen Himmel von einem Ende der Welt zum andern flog. Um sie her war eine ungeheure Strecke nichts, gar nichts; als aber wieder etwas da war, da war es das Jenseits. Das sah aus wie die Erde, nur etwas sauberer.

Am Thore wurde er von dem gesamten jenseitigenSchrift­steller-Verein" empfangen. Der erste Vorsitzende, ein stattlicher alter Herr, der noch vor Jahr und Tag etwas Ähnliches in einer großen deutschen Stadt gewesen war, nahm das Wort:

Verehrter Herr Kollege! Gestatten Sie, daß wir Sie im Nennen der Fachgenossen an der Schwelle des Jenseits willkom­men heißen. Da wir hier nicht so sehr lügen dürfen wie auf Erden, muß ich Ihnen gestehen, daß kein einziger unter uns Ihre sämtlichen Schriften gelesen hat. Sie sind aber vor ge­nau einem Jahre, unmittelbar nach der Feier Ihres siebzigsten Geburtstages, für die große jenseitige Leihbibliothek auf unser Ansuchen angeschafft worden. Wir haben damals mit lebhafter Überraschung erfahren, daß ein Schriftsteller Ihres Namens lebe. Wir haben bemerkt, daß alle deutschen Zeitungen sich genötigt sahen, Festartikel zu bringen, und daß gerade die ge­schütztesten Kritiker untereinander etwas wie eine Keller-Gemeinde gegründet hatten. Wir sagten uns, daß ein so berühmter Zeit­genosse sofort nach seinem Tode Mitglied unseres Vereines werden müsse, und wir beschlossen, Sie bei der nächsten Wahl für die Stelle eines ersten Vorsitzenden in,Aussicht zu neh­men. Wir wollen hier wie auf Erden durch festes Zusammen­halten die Verleger ..."

Keller. Ihr L.,* ich will Euer Vorsitzender nicht

sein und Euer Genosse auch nicht. Es freut mich uur, daß Ihr meiue Sacheu nicht gelesen habt. Wann habe ich mich je in Eure Zäukereieu und Stünkereien gemischt? Soll ich im rein­lichen Jenseits da hineintreten, wovon ich mich auf Erdeu im­mer frei gehalten habe? Laßt mich meiner Wege gehn! Ich bin kein Litterat! Staatsschreiber von Zürich a. D. bin ich und als solcher will ich in Eurem Einwohnerverzeichuis steheu, weuu einer von Euch so ein dickes Buch irgendwo herausgiebt.

I)r. dl. Der gehört nicht zu uns. Er hält sich am Ende für einen Unsterblichen. (Allgemeine Heiterkeit.)

I)r. B. Wir wollen in unsrem Verbands-Organ er­klären, er sei überhaupt kein Litterat.

vr. C. Ich beantrage, ihn in unsrem Verbands-Organ für einen unmoralischen Menschen zu erklären.

vn. D. ... für verrückt.

Or. E. ... für einen Säufer.

Der Vorsitzende. Ich stelle Ihnen anheim, Herr Keller, Ihr Gesuch um Ausnahme in unsren Verein znrückzuziehen, da Sie nur wenig Hoffnung haben . . .

Ruhigen Schritts wunderte Gottfried Keller weiter. Seine rundliche kleine Gestalt fiel im Jenseits nicht auf. Da kam er an einen Eispalast.Das wäre eine gute Kellerei," dachte er schmunzelnd. Es war aber das Haus der Unsterblichen, und er vernahm seinen Namen. Bedächtig blieb er stehen. Die

* Ein unübersetzbares sechssilbiges schweizerisches Schimpfwort.