Heft 
(1889) 43
Seite
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Deutschland.

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leben können, indem er sie in keimfreier Nährlösung ohne Grnn- zellen züchtete, bis sie selbst wieder Sporen trugen; und erst im vergangenen Jahre hat ein französischer Forscher, Bvnnier, eine Reihe von Versuchen veröffentlicht, durch die es ihm ge­lungen ist, sogar freilebende Algen zur Eingehung eines Flechtenverbandes zu bringen, die noch niemals früher mit Pilzen in Berührung gekommen waren. Wenn man bedenkt, daß diese Versuche jahrelang bis zur Reifung der Flechten­früchte fortgesetzt werden mußten, , und nur wenn man weiß, welche Ausdauer und Geduld in der Überwachung, und welcher Auf­wand von fortwährenden Vorsichtsmaßregeln gegen die Ein­schleppung fremder Keime dazu gehört, ist es möglich, ihren Wert nicht bloß nach dem Erfolge, sondern auch nach der Forscherarbeit, die darin steckt, richtig zu ermessen.

In der Natur ist die Vermehrung der Flechten freilich nicht auf das zufällige Zusammentreffen zweier zukünftiger Lebensgenossen beschränkt. Gleich als sollte für den schlimm­sten Fall noch eine besondere Sicherheit geschaffen werden, finden wir noch eine zweite, gänzlich ungeschlechtliche Fort­pflanzungsart bei ihnen bestehen. Denn bei der Einzel- keimnng der beiden Bestandteile vermehrt sich zwar die Alge durch bloße Teilung, der Pilz aber geschlechtlich: der Sporen­bildung geht die Entwickelung weiblicher Fruchtungs- und männ­licher Befruchtungskörper voraus. Häufig aber lösen sich auch nesterartig umgrenzte Stücke des Flechtenkörpers los, die bei­des, Pilz und Alge, schon enthalten. Man nennt sie Keimstücke, Keim nester, auch wohl Brutkörner oder Brut­stäubchen (Soredien"). Sie sind von der Größe kleiner, feiner Samenkörner und stellen im Grunde genommen bereits eine kleine, vollständige, von dem Mutterstocke getrennte Zweig- siedelung, einen jungen, fertigen Doppelkörper, kurz eine junge Flechte vor. Diese wächst, einmal selbständig gewor­den, an dem Orte, wo sie sich festgesetzt hat, nach Art der alten Flechte weiter, und verhält sich also in dieser Beziehung genau so, wie die durch Knospung abgetrennten Glieder vieler niederer Tiere.

Zu erwähnen wäre noch, daß ein und dieselbe Pilzart mit verschiedenen Algen auch verschiedene Flechtenkörper erzeugt, daß aber im allgemeinen mehr verschiedene Pilzarten zur Flechtenbildung beitragen, als es Algen giebt, die daran teil­nehmen. Neuerdings ist es einem Forscher, Zucal, sogar ge­lungen, eine sogenannteDoppelflechte" aufzufinden, das heißt einen Flechtenkörper, an dessen Zusammensetzung zweierlei Pilze teilnehmen. Beide haben sich zugleich mit derselben Alge verbunden, und ein dreiblättriges Kleeblatt führt hier gemein­samen Haushalt. ^ ^

Tot und dürr erscheinen die Flechten in der Natur, wo wir sie finden. Eine Sammlung von ihnen, sei sie auch frisch zusnmmengetragen, bildet in der Trockenheit und Unveränder­lichkeit ihrer Bestandteile gleichsam ein lebendes Herbar. Und dennoch birgt sich unter dem toten Scheine fast unauslöschliches Leben: jedesfalls die größte Lebenszühigkeit und Lang­lebigkeit, die wir beobachten können. Eine Flechte kann jahre­lang in einer wirklichen Trockensammlung, selbst gelinde ge­preßt, aufbewahrt werden: hat man sie nicht etwa durch Wasser­dampf getötet, so erwacht ihr schlummerndes Leben, sobald man sie herausnimmt und befeuchtet. Sie wächst weiter, als wäre nichts geschehen. Dies ist bei den meisten ihrer Art auch der Vorgang in der Natur. Nur bei feuchter Luft, bei Regenwetter, wachsen sie und äußern ihr Leben; in der Zwischenzeit bilden sie lebende Mumien, wohlbewahrt vor den Schädlichkeiten der Außenwelt. Aber ihr Leben steht fast still. Und das Wahr­wort, daß Stillstand einen Rückgang bedeute, scheint an ihnen zu schänden zu werden. Bei lange anhaltender Trockenheit kann man eine bestimmte Flechte wochenlang beobachten: man wird keine Veränderung an ihr bemerken. Ein paar

Regentage, und das Versäumte ist eingeholt. Ihr Wachstum ist das langsamste, das wir kennen: freilich nur im Durchschnitt; denn ihr Lebenslauf vollzieht sich in Sprüngen.

Darin aber liegt das eigentliche Geheimnis der Flech- tengemeiuschaft zwischen Pilz und Alge. Die Gegensätzlichkeit ihres iuneren Stoffwechsels, wie er sich in der Ernährung aus­spricht, ermöglicht ihr Zusammenleben; ist ein solches aber ein­mal zu stände gekommen, so erhebt sich dieLeistung, deren das Doppelwesen fähig ist, weit über die jedes einzelnen seiner Be­standteile. Auch die Alge kann es ohne den Pilz nicht soweit bringen, wie es ihr in der Flechtengemeinschaft gelingt. In­dem sich Pilz und Alge voneinander abhängig gemacht haben, sind sie desto unabhängiger von der Außenwelt geworden. (Fortsetzung folgt.)

Schule Gutte.

Entseelte Wehstünde von Bahrmauu Herr.*

Bon

seit sechs Uhr lag sie da und konnte sich nicht regen.

Auf dem Sofa lag sie und regte sich nicht.

Und schon schlug die Ühr dreiviertel Elfe.

Es war ein heiserer schnarrender Laut. Es war ein Läuten und Krachen, ein Gurren und Gurgeln und ein Knistern und Knacken. Es schnalzte und raschelte und bollerte, als ob ein Weltall zerspringen sollte.

Sie fuhr empor.

Schon dreiviertel Elfe.

Ja, jetzt war es Zeit.

Fort.

Und sie befand sich auf der Straße.

Jetzt mußte sie ihn finden. Ihn. Wen, ihn? Nun, ihn. Da schritt er ja vor ihr. Ein großer Herr in grauem Cylin- der, mit violetten Hosen, dem der gelbe Überzieher so Phan­tastisch-gespensterhaft um die interessant schlotternden, ausge­dörrten Waden schlappte. Er war es. Sie wußte es. Eine Stimme in ihr sagte es. Rief es. Brüllte es. Jauchzte es. Schrillte es mit heiseren, betäubenden Pfiffen. Und ein nar­kotischer Dunst stieg um sie auf, in warmen, geilen, schäumen­den Dämpfen, daß ihr das Gehirn an zu brausen fing in schmutzig-grauen Blasen und weißlich-gelben Gischten.

Und sie suchte ihr Gehirn. Sie suchte es mit Eifer und Anstrengung. Sie legte eine Leiter an nach ihrem Kopf und klomm auf dieser empor. Ängstlich, von Sprosse zu Sprosse. Aber so hoch sie auch stieg, schon war sie über den Mond hinaus sie konnte es nicht finden, ihr Gehirn. Es war davongeflogen, schwanengleich, wie ein von Pygmäenfaust ge­schleuderter Felsblock, der nun oben am Sternenhimmel umher­irrte, als ein entwurzelter Komet, der gerne ein Fixstern wer­den wollte.

Oder auch es war zu Boden gesunken, das Gehirn.

Ja, das war es.

Aberglaube, der Menschheit, daß das Gehirn im Kopfe stecke! Eine neue Zeit mußte kommen, das Ende des Jahr­hunderts, und diesen thörichten Kinderwahn ausrotten, mit Stumpf und Stiel. Ja ausrotten, das war es.

Die Zeit mußte ausziehen aus ihrem stinkigen Stall und aufs neue ihr Gehirn suchen.

Sie mußte wissen, vor allem, daß es nicht im Kopfe stecke.

Es konnte in den Gedärmen stecken, oder im Nabel, oder im dicken Zeh.

* Die obige Parodie wendet sich gegen etwas von Hermann Bahr, was man ebenso gut einen Roman, eine Novelle oder eine psychologische Studie nennen könnte. Das Etwas heißt:Die gute

Schule" und hat unter den eingeschworeuen deutschen Naturalisten be­denkliches Schütteln des Kopfes, unter den andern Lesern oft Ent­rüstung, noch öfter Heiterkeit erregt. Da Hermann Bahr trotz seiner- guten Schule ein Talent ist, wird diese Parodie, welche einen guten Begriff dieser Schule geben mag, ihm nicht zu viel Ehre erweisen.

D. Red.