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nannten guten. Niemand wird Tolstoi der Unreinheit zeihen. Er ist einer von den Seelenürzten, die sich nicht scheuen, die stinkendsten Kräuter zu pflücken, um eine heilsame Medizin daraus zu brauen. Die Ehelosigkeit scheint ihm so ein Allheilmittel. Zur Ehelosigkeit will er in seiner merkwürdigen, traurigen, abscheulichen „Krcutzersonate" aufreizen. Was wird er da
mit erreichen? Ehelos, mit und ohne Standesbeamten, werden die Menschen nicht bleiben. Es werden also nur die bereits Verheirateten gegen die Ehe anfgereizt. . Sie sehen plötzlich klar über viele Warum's und Weshalb's, unter denen sie geseufzt. Werden sie durch diese Erleuchtung glücklicher? Wenn irgendwo, ist in der Ehe das Dunkel der grellen Wahrheit vorzuziehen. Was nützt namentlich der verheirateten Frau die Kenntnis von Verhältnissen, über die sie gar keine Macht hat. Nicht einmal für die Kindererziehuug hat sie Wert. Denn eine kluge, gute Frau wird mit einer gewissen unschuldigen Blindheit ihren Sohn besser erziehen, als wenn sie im stände ist, ihm in alle Schlupfwinkel seiner geschlechtlichen Verstecktheiten zu folgen. Und sie wird die Armen und Elenden hilfreich unterstützen, auch ohne ihre viehischen Laster- haarscharf zu kennen. Und nun erst die Mädchen, diese Zwitterwesen von Verlangen und Entsagen, „für die die neue Litteratur nicht geschrieben," — sie saugen daraus das gefährlichste Gift. Sie verdanken ihr, wenn nichts Schlimmeres, die traurige Gabe einer befleckten Phantasie. Hat der unverheiratete Schriftsteller noch nie an das gedacht, was der Franzose «arnoller ckar>8 8ou verre» nennt? Man verlacht die Romane unserer Mütter mit ihren edlen, von Vollkommenheit triefenden Helden und Heldinnen, der geschraubten Sprache, den unwahrscheinlichen Verwickelungen. Und doch haben sie weniger Schaden angerichtet als die Wahrheitsbücher mit ihren allzunatürlichen Vorgängen, die oft einem Bädeker durch den Schlamm des Lebens gleichen, mit einem Stern für die schlüpfrigsten Stellen.
„Welche engherzige Auffassung! Was sollten denn die Frauen dann überhaupt lesen?" So wenig Romane als möglich, denke ich. In der Kindheit Märchen, später, in dem Alter, in dem noch das schwungvolle Wort über den Gedankenkern hinwegtäuscht, die Klassiker, natürlich selbst Faust uud die Räuber. Und noch später ernste Werke, historische, knnst- und naturgeschichtliche. Auch giebt es gottlob noch immer Bücher, die wahr sind nud nicht abscheulich, die das Leben schildern und nicht nur seinen Schmutz. Wenn die Frauen sich Verbünden, nur solche zu lesen, und alle jene Bücher und Theaterstücke zu boycottisieren, vor welchen die Kritik in so verführerischer Weise warnt, — würde dann nicht die mangelnde Nachfrage das Angebot vermindern und die hochgehende Flut der Schmutz- — entschuldigen Sie — Wahr- heitslitteratur znrückdümmen? Es ist ein Vorschlag zur Erreichung sittlicher Gesundung, albern uud kindisch im Vergleich zu Tolstois Bestrebungen. Halten Sie ihn für ebenso unausführbar? —*
* Jawohl. Trotzdem und trotz der Frauenzimmerlichkeit hat es uns gefreut, die anregenden Gedanken abzudrucken. D. Red.
Alwine Kritik.
Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. 1890 und weiter.
Erschienen 12 Bände kl. 81 (Leipzig, Wilhelm Engelmann.)
Mehr und mehr macht sich neuerdings das Bestreben bemerkbar, beim Betriebe der Wissenschaften eher, als es bisher geschehen, an die Eigenwerke der bahnbrechenden Geister heranzugehen, denen unsere
Erkenntnis nachhaltige Förderung verdankt. Wirklich sollte auch, wer nur auf irgend einem Gebiete über die ersten Anfangsgründe hinaus ist, dem alten Rate des Frankfurter Weisen folgen, und den Einblick in das Bedeutende und Schwierige gerade da suchen, wo er am klarsten zu erwarten ist: nämlich wo dieses, eigenem Nachdenken entsprungen, sich unmittelbar, irr Matn imsooncki, auch am überzeugendsten darstellt, weil der Weg, auf dein es gefunden worden, klar vor Augen liegt. Statt dessen quälen sich die meisten angehenden Forscher jahrelang mit Leitfäden, Lehrbüchern und gedrängteil Jahrhundertsübersichten herum, um dann am Ende, meist erst durch ein glückliches Ungefähr, dahinter zu kommen, daß das alles weit einfacher und besser aus erster Quelle zu haben gewesen wäre, und eine Menge Zeit unnütz verschwendet ist. Besonders gilt dies von den älteren Wahrheiten, aus früheren Jahrhunderten; welche freilich auch im ursprünglichen Gewände weit schwerer zugänglich sind; jedoch auch die neueren sind meist in Akademieschriften und dergleichen verstreut, welche nur auf großen Büchereien unter ebenso großen Umständlichkeiten zu erlangen sind. Es ist daher mit Freuden zu begrüßen, daß die obengenannte Verlagshandlung die Hand dazu geboten hat, diesem Mangel auf einem Gebiete, dem der exakten Wissenschaften, nachdrücklich abzuhelfen, und Eigenabhandlungen von Männern wie Gauß, Weber, Bessel, Liebig, Laplace, Gay-Lussac n. a., ja Galileo Galilei, in Einzelausgaben oder Übersetzungen zu mäßigem Preise in Umlauf zu bringen. Wer ein Bändchen zur Hand nimmt, wie Galileis „Unterredungen und mathematische Demonstrationen re." vom Jahre 1638, und dann sieht, wie sich dieser Stoff liest gleich einem Romane, nur zufolge der Darstellungskunst eines großen Meisters, der wird nicht im Zweifel darüber sein, was hier geboten wird; und daß lehrbüchermäßig gedrängte Darstellung durchaus nicht Hand in Hand mit der Schnelligkeit des Verständnisses beim Leser geht, sondern eher im umgekehrten Verhältnisse dazu steht. Die in Rede stehende Sammlung steht unter der wissenschaftlichen Leitung Professor Ostwalds zu Leipzig; die Herausgebung der einzelnen Abhandlungen ist jeweilig Vertretern des betreffenden Faches anvertraut, und von diesen sind, abgesehen von der etwaigen Übersetzung, die Bändchen mit Anmerkungen versehen, welche, wo es notwendig ist, die heutige Stellungnahme der Wissenschaft zu den behandelten Fragen beleuchten. Unter den bisher erschienenen zwölf Bänden nennen wir, außer der erwähutcn Schrift Galileis, die Abhandlungen zur Atvmtheorie von Dalton und Wollaston lherausgegeben von Ostwald), Gay-Lussaes berühmte Abhandlung über das Jod (von demselben), Kants Theorie des Himmels (Ebertt, zwei Sachen, darunter die Flächentheorie, von Gauß (Herausgeber Wangerinj, Helmholtzs Erhaltung der Kraft, Bessels Länge des einfachen Sekunden- pendels (Bruns). In Vorbereitung sind zunächst noch Abhandlungen von Gauß, Liebig, Wühler, Coulomb, Hnyghens, Lavoisier, Laplaee u. s. w-, bis zur Nr. 20 der ganzen Sammlung. Ausfallen muß es, daß neben der erwähnten Abhandlung von Helmholtz, welche Nr. 1 trägt, nicht Robert Mayers auf den gleichen Stoff bezügliche Schrift steht. Hier wäre einmal Gelegenheit gewesen, die Verdienste beider Forscher, von denen die des einen wahrlich die des andern nicht schmälern, nebeneinander der wissenschaftlichen Welt zur unbefangenen Würdigung vor- zulegen, und so auf die einwandsfreieste Weise ins richtige Licht zu rücken. Daß Helmholtz nicht etwa erst aus Mayer geschöpft hat, weiß man ohnedies; im übrigen sind aber dessen Erstlingsrechte jetzt doch längst, und darunter, wenn auch mit Einschränkungen, von Helmholtz selber anerkannt; einem Bedenken konnte daher die Einreihung Robert Mayers, der für seine Entdeckungen bei Lebzeiten genug gelitten, und dem ja jetzt auch seine Vaterstadt ein Denkmal gestiftet hat, unter die „Klassiker" der exakten Wissenschaften nicht unterliegen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, hoffentlich holt die Leitung des verdienstvollen Unternehmens bald das Versäumte nach. Ein geeigneter Herausgeber wird sich doch wohl finden. 1.
Druckfehler - Berichtigung.
In Nr. 45 dieser Zeitschrift muß es unter „Kleine Kritik" S- 739 im Titel des zweiten besprochenen Werkes „Soma-," nicht „Svnia-" (zellen) heißen; ferner lautet der Name des einen Herausgebers von Diesterwegs Himmelskunde nicht „Schwabbe," sondern „Schwalbe."
Verantwortlicher Redakteur: Fritz Mauthner l» Berlin lV., Frodcnstraßc 33. — Druck und Verlag von Carl Flemming in Glogau-