Heft 
(1889) 48
Seite
784
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Deutschland.

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mit seiner kritischen Gunst erfreute, so hätte er nach meiner un­maßgeblichen Meinung fernerhin das Recht verwirkt, als Kri­tiker thütig zu sein. Der letzte Schauspieler und der letzte Possenfabrikant hätte dann das Recht, sich die öffentliche Be­urteilung durch einen Beamten des Konkurrenten gröblich zu verbitten.

Mit dem Rücktritt von der öffentlichen Kritik wäre der Fall Lindau aber auch erledigt. Ungekränkt mag er gemein­schaftlich mit wem er will Lustspiele und Verbrecherromane schreiben. Die ganze Sache vor den Gerichtshof des Vereins Berliner Presse zu bringen, das wäre ein gefährliches Unter­fangen; ich will in einer zweiten Betrachtung die Gründe Vor­bringen, welche gegen diese Form des Austrages sprechen.

Kleine Kritik.

Die soziale Entwicklung des Menschengeschlechtes. Von I)r.

Georg Meyer. (Straßburg, I. H. Ed. Heitz sHeitz und Mündels, 1890.)

Die vorliegende kleine Schrift gleicht in ihrer knappen Fassung beinahe einer Aneinanderreihung von Aphorismen; nur daß diese streng gedanklich geordnet sind.Der Mensch ist teils Tier, teils Engel;" so beginnt der Verfasser; wobei er unterEngel" das Edelbild des sittlich vollkommenen, Wahres erkennenden und Schönes empfindenden Wesens versteht. Demgemäß stellt er dem tierischen Teile im Menschen, dem von ihm sogenanntenAnimalismus", den engelhaften als Humanismus" gegenüber. Auf das soziale Gebiet angewandt, stellt sich ihm dann der Animalismus, die menschliche Tierheit, als Egoismus, der Humanismus, die höhere Menschlichkeit, als Philanthropismus dar. Diese Gegenüberstellung bildet den Ausgangspunkt und die Grund­lage des ganzen Gedankenganges.

Das Wesentliche des letzteren ist, daß in der bisherigen Entwicklung des Menschengeschlechtes der anfangs allein herrschende Animalismus durch den Humanismus ergänzt worden sei, dadurch aber selbst allmählich an Gebiet verloren habe; und daß der Verfasser den weiteren Fortschritt der Gesellschaft in einem zu erwartenden, immer stärkeren Überwiegen des Humanismus sieht. Bei dem gegenwärtigen Stande der Gesittungs­entwicklung haben ihm aber beide ihre Berechtigung. Der tierische Bestandteil im Wesen des Einzelnen ermöglicht den Kampf ums Dasein; dieser ist zum weiteren Fortschreiten notwendig, da vorläufig die sittliche Entwicklung der meisten Menschen noch nicht die Stufe erreicht hat, um seiner als Anspornungsmittel entbehren zu können. Fehlte er schon jetzt, so würde die Sittigung stillstehen, und ein allgemeines Chinesentum eintreten. Daß aber der Kampf an Schärfe und Niedrigkeit immer mehr verliert, dafür sorgt der engelhafte Teil, der zum Edel-, Hilfreich- und Gutsein zwingt. Er hat ein Naturgesetz zum Grunde, wie der tierische. Edelmenschlichkeit mW Menschentierheit befinden sich im all­gemeinen stets in einem gewissen Gleichgewicht; aber der Schwer­punkt des Ganzen wird im Laufe der Entwicklung allmählich verrückt: dies das treffende Bild, das der Verfasser aufstellt. Das unzeitgemäße Überwiegen des einen, oder anderen Bestandteiles zeigt sich gesellschaftlich im Partiknlarismus und im Kosmopolitismus; während die gesunde Mitte in einem den Zeitverhältnissen angemessenen Patriotis­mus liegt. Treffend bezeichnet Georg Meyer den Partikularismus, oder Lokalpatriotismus, als stets veralteten Animalismus, den Kosmo­politismus als stets verfrühten Humanismus. Aber er weist auch mit Recht darauf hin, wie gewaltig verschieden von dem wahren, edel­menschlichen der Kosmopolitismus so vieler ist, der in seiner ganzen Öde gerade dem Animalismus entspringt und sich nur scheinbar freilich auch unbewußt als Menschentum giebt, während in Wirklichkeit unter dieser Flagge die Gleichgiltigkeit gegen alle anderen Menschen,

gegenüber dem selbstischen Vorteil, segelt. Es ist in Wirklichkeit der höchste Grad des Partikularismus, der Individualismus; wie denn auch Strebertum und Ehrgeiz Ausflüsse des Animalismus sind.

Im einzelnen müssen wir auf die Lesung der Schrift selbst ver­weisen. Sie ist durchaus vom naturwissenschaftlichen Standpunkte, aus der Erkenntnisgrundlage unserer Zeit, abgefaßt; rein sachlich, nicht zweck- lich. Die Teleologie hat keine Stelle in ihr, so leicht der Gegenstand dazu verführt. Eine zu einseitig hohe Meinung hat der Verfasser viel­leicht, im Rahmen seiner Darstellung, von Christentum und Freimaurerei; wenn er sie als die wichtigsten Ausflüsse des Humanismus bezeichnet, so wird man, da es sich um ihren sittlichen Gehalt handelt, mindestens Buddhaismus und Forschertum mit Recht daneben stellen dürfen. Und in allem diesen mag manches sein, was dem Einwurf der Verfrüht­st eit gleichfalls begegnen kann; so gut, wie Altes abgeschüttelt wird.

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-j- H

Noti'6 ««tzur. Von Guy de Maupassant. (Paris, Paul Ollendorff. 1890.)

Die nach den: letzten Novellenbande «lüinntils bsnuts» mehrfach ausgesprochene Erwartung, noch im Laufe dieses Sommers den zwanzig­sten Band des unermüdlich fabulierenden Guy de Maupassant erscheinen zu sehen, hat sich richtig erfüllt: um die Mitte des Juni lag der neue Roman «idlotre ooeur» bereits mit einer hohen Auflageziffer versehen in allen Schaufenstern. Maupassant ist kein gewöhnlicher Vielschreiber; er ist augenblicklich in eine Periode gelangt, wo es ihn unaufhaltsam zur Produktion drängt und so entsteht ihm Buch auf Buch, ohne daß die subtile Feinheit der Ausführung darunter auch nur im geringsten litte. Sein neuer Roman oder wenn man lieber will: seine neue Novelle ist wiederum eine psychologische Studie von feinstem Reiz. Ein ästhetischer Gourmand und künstlerisch hoch veranlagter Dilettant wird an der Schwelle der kritischen vierziger Jahre von einer heißen Leidenschaft zu einer gra­ziösen und liebenswürdigen Weltdame erfaßt, die seiner heftig begehren­den Glut nur die wohltemperierten Gefühle der von tausend Nichtigkeiten in Anspruch genommenen modernen Salondame zu bieten vermag. Der stolze Liebestrauin zerrinnt, und da er eingesehen hat, daß man hienieden Mit dem «ü 1>6U xi-68» sich begnügen muß, versucht der melancholische Schwärmer sein Herz zu teilen zwischen die Frau, die er liebt, und das Naturkind, von dem er geliebt wird. Seelische und sinnliche Liebe, selbst­lose Leidenschaft und gestreichelte Eitelkeit werden hinfort versuchen, ge­trennte Wirtschaft zu führen. Jener sehnsüchtige Neo-Hellenismns, zu dem sich Maupassant bekennt, kommt in dem stilistisch nahezu vollendeten Werke zu schmerzlich schönem Ausdruck, «l^otrs ooeur» ist ein bemerkens­werter Beitrag zur Psychologie der modernen Frau, die nach der An­schauung des französischen Geistesaristokraten durch das Raffinement der gesteigerten Kultur unfähig geworden ist, dem Manne jene selbst­vergessene Hingebung zu schenken, die ein heißes Herz verlangt. Die ursprünglichen Instinkte sind fast völlig ausgetilgt, der Egoismus, der Trieb, ein eigenes Leben zu leben, ist erwacht in der modernen Frau, und die unumschränkten Herren von gestern stehen erstaunt, erschreckt, vor der gelassenen Klarheit im Denken und Fühlen der neuen Ge­nossinnen. Der stumme Verzweiflungskampf einer Seele um den höchsten, ewig unerreichbaren Besitz ist mit diskretester Meisterschaft geschildert; Guy de Maupassant hat äußerlich wirksamere Bücher geschrieben: aber denr verständnisvollen Leser hat er nie zuvor einen delikateren Genuß bereitet als mit dieser stillen Geschichte von der ewigen Notwendigkeit der Resignation. II.

Mer^ichtigung.

Zufolge eines Versehens habe ich in dem AufsatzLebensgemein­schaften" in Nr. 46, S- 752, in der Anmerkung Spalte 1 als Entdecker der dort erwähnten Bakterienmethode zur Nachweisung des Sauer­stoffs fälschlich den russischen Botaniker Cienkowsky angegeben. Dieses Verfahren ist vielmehr von Engelmann aufgefunden worden.

D. Vers.

Verantwortlicher Redakteur: Fritz Mauthner in Berlin tV., Frobenstraße 33. Druck und Verlag von Carl Flemming in Glogau.