Heft 
(1989) 47
Seite
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tiert 2 7. Mit Recht hebt Fontane Longfellows Bedeutung für die Nordamerikaner als Vermittler ausländischer Literaturen hervor. Er war ein eifriger Verfechter der Sprach- und Literaturwissenschaft in einem Land, wo praktische Fähigkeiten und materieller Erfolg den höchsten Stellenwert einnahmen. Der wichtigste aus­ländische Einfluß auf ihn kam von Goethe und den deutschen Romantikern her. In seinen Vorlesungen über Goethe von 1837 an suchte er seinen Enthusias­mus mitzuteilen; sie stellten ein bedeutsames Plädoyer für diesen in Nordamerika suspekten deutschen Dichter dar, dessen religiöse Äußerungen bei den Purita­nern Neu-Englands Grund zum Anstoß gaben. Dagegen entsprach Schillers Welt­bild eher ihren eigenen Lebensauffassungen. Longfellows Interesse an der Lite­ratur der Alten Welt aber war nicht nur romantischer Eskapismus. Für ihn machte die Dichtung der Vergangenheit einen wesentlichen Teil des Erbes der zivilisierten Menschheit aus. In seiner Schlußansprache anläßlich der Verleihung seines akademischen Grades am Bowdoin College 1825 betonte er die Not­wendigkeit einer nationalen Literatur und die Anerkennung des Dichterberufes als eine gesellschaftlich akzeptierte Stellung 20 . Dreißig Jahre später bewies er die Stichhaltigkeit seiner Argumente durch seine eigene Persönlichkeit.

Zu einem erstaunlichen Grad gleichen seine Ansichten und frühen Erfahrungen denen Fontanes, der sich gleichfalls dem Ausland nämlich Großbritannien und zwar in der Suche nach einem kulturellen Erbe zuwandte, das der einhei­mischen Literatur als schöpferisches Moment dienen sollte. Seinen poetischen Leistungen lag wie denen Longfellows eine fruchtbare Kombination von Altem und Neuem zugrunde. 1835 schrieb der amerikanische Autor;Für meine jugend­liche Einbildungskraft war die alte Welt eine Art Heiliges Land, weit entfernt jenseits des blauen Horizonts des Ozeans; und als ich seinen Strand zuerst er­blickte, wie er im Nebel auftauchte, stieg in mir die tiefe Gemütserregung eines Pilgers auf, der in weiter Ferne den Turm erblickt, der von der ersehnten heiligen Stätte emporragt." 211 1844 notierte Fontane im Tagebuch:Seit Jahren blickt ich auf England wie die Juden in Ägypten auf Kanaan." 20 Diese Bemerkung entsprang zwar in erster Linie dem Verlangen nach individueller Freiheit, aber in beiden Fällen wird der Sehnsucht nach einer Erneuerung der vorherrschenden Anschau­ungen im eigenen Land und nach einer neuen Quelle seelischer und sittlicher Inspiration Ausdruck verliehen. Beide Schriftsteller waren gleichzeitig Patrioten und Weltbürger.

Anders aber als Fontane genoß Longfellow zu Hause und im Ausland schon zu Lebzeiten eine phänomenale Popularität. 1855 wurden innerhalb von vier Wochen 10 000 Exemplare von Hiawatha verkauft, und 1857 wurde die gleiche Zahl von Exemplaren von The Courtship of Miles Standish am Erscheinungstag des Buches in England abgesetzt. 1868 und 1869 wurde Longfellow Ehrendoktor der Uni­versitäten von Cambridge und Oxford und zu einer privaten Audienz bei Queen Victoria geladen. Am 17. Juli 1869 erklärte die Illustrated London News:Es gibt keinen lebenden englischen Dichter, der in England soviele Leser hat wie Long­fellow. Seine Werke sind ja Millionen bekannt." 21 Zu diesem Zeitpunkt verfügte er bereits über ein Einkommen von mehr als 48 000 Dollar im Jahre. Bis 1900 waren Longfellows Werke in zwölf Sprachen übersetzt, und allein in Deutschland waren 33 verschiedene Übersetzungen erschienen, darunter acht von Evangeline und fünf von Hiawatha. Obwohl es schon immer kritische Bedenken gab, was die Qualität seiner Dichtung betrifft, so hat er eindeutig, wie Tennyson auch, für seine Zeit gesprochen, und das mit einer Stimme, die seine Zeitgenossen liebten und verstanden.

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