Am Anfang seiner Darstellung von Longfellows Werken macht Fontane von der Gelegenheit Gebrauch, seine eigenen Ansichten über die Kunst des Übersetzens zu äußern. In seinen dokumentarischen Schriften kommen solche Exkurse über literarische und ästhetische Fragen häufig vor. Hier nutzt er die Möglichkeit, auf Grund praktischer Erfahrung die Übersetzungsversuche seiner Landsleute kritisch zu betrachten. Daß er Freiligrath ausnimmt, ist nicht überraschend, denn aus einem Brief an Longfellow geht hervor, daß für Freiligrath der Drang zum Übersetzen von poetischer Inspiration kaum zu unterscheiden war: „ ... ich soll zuviel übersetzen! Ich kann darauf nur erwidern .. . Daß ich ... bei'm Lesen eines mir besonders ansprechenden Gedichts in einer fremden Sprache dem Drange, dasselbe zu übersetzen ebensowenig widerstehen kann, wie ich die eigene Conception abzuweisen imstande bin . .. Dir brauche ich außerdem nicht noch zum Überfluß zu sagen, wie eben auch eine poetische Uebersetzung gedichtet werden muß, wenn sie was werth sein soll."' 52 Fontane war wie Freiligrath der Meinung, daß ein übersetztes Gedicht zuallererst ein Gedicht zu sein habe und erst an zweiter Stelle käme die buchstäbliche Treue gegenüber dem Original.
Das Bewundernswerte bei Freiligrath ist, daß ihm oft beides gelang. Fontane neigte eher dazu, den Rhythmus und die Stimmung eines Gedichtes wiederzugeben, wenn auch gelegentlich die wörtliche Bedeutung dabei verloren ging. Freiligrath veröffentlichte zehn ausgezeichnete Longfellow-Übersetzungen neben einer Übertragung von Hiawatha, deren erste Strophen Longfellow mit den Worten charakterisiert: »wie dem Original auf Löschpapier abgenommen." 33 Er selber verfaßte Übersetzungen aus 18 Sprachen, und Fontanes Analyse des Übersetzungstalents Freiligraths gilt ebenfalls für Longfellow. Die frühe Nachdichtung von Uhlands „Schloß am Meer", einem Gedicht, dem Fontane in Unwiederbringlich weitere Bedeutung beimessen sollte, ist dafür charakteristisch. Allerdings behauptete er, daß es einen Teil seiner Werbung um Fanny Appleton bildete und daß die besten Zeilen von ihr stammen. Unter seinen späteren Übersetzungen ist die Version von Goethes „Wandrers Nachtlied I und II" eine Spitzenleistung. In einem Brief an Freiligrath aber erklärt er, daß er mit seinen Gedichten nicht fertig wird, vor allem nicht mit der „Nacht im Hafen " 34 . Longfellow erkannte in der Arbeit als Übersetzer nicht nur eine schöpferische Tätigkeit sui generis. Er empfand es wie Freiligrath fast als Pflicht, seine Begabung zu nutzen, um seinen Landsleuten die Kunst anderer Länder zu vermitteln. Außerdem sah er in ihr eine Quelle dichterischer Eingebung: „Es ist, wie wenn man den Boden des eigenen Geistes mit einer Pflugschar aufreißt; tausend Gedankensamen keimen auf ... die sonst in der Erde liegen geblieben und verrottet wären.“ 33 Nach dem Tod seiner zweiten Frau nahm die Übersetzung eine therapeutische Funktion an. So fertigte er eine englische Fassung von Dantes Divina Commedia an, um seinen Schmerz über ihren Verlust zu betäuben.
Heutzutage sind die Prosawerke Longfellows in Vergessenheit geraten, obwohl sie nach wie vor seine seelische und künstlerische Entwicklung aufschlußreich dokumentieren. Seine 1849 erschienene Erzählung Kavanagh hat man als „Essay in der Form eines Romans" bezeichnet 33 , und die Hauptfigur ist, wie Fontane mit Recht bemerkt, der Schullehrer, der Longfellows Gedanken über Literatur und Wissenschaft erörtert. Einer der wichtigsten betrifft den Begriff der Nationalliteratur: „Das Beste bei den Dichtern eines jeden Landes ist nicht das Nationale sondern das Universelle. Ihre Wurzeln stecken im Boden des Vaterlandes, aber ihre Äste bewegen sich in der unpatriotischen Luft, die für alle die gleiche Sprache spricht, und ihre Blätter glänzen mit dem grenzenlosen Licht, welches alle