REZENSIONEN
Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abt. III, 5. Band. Zur deutschen Geschichte, Kunst und Kunstgeschichte. Hrsg. v. Helmuth Nürnberger u. a. — München: Carl Hanser Verlag 1986. 1015 S.
(Rez.: Christian Grawe, Melbourne)
Es ist immer erfreulich, wenn der deutsche Partikularismus und Pluralismus seine guten Seiten zeigt: Wir haben eben nicht eine autoritative Fontane-Ausgabe, sondern drei konkurrierende Werkeditionen, die sich in ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden. Die Nymphenburger Ausgabe (N) liegt abgeschlossen vor, die Hanser Ausgabe (H) ist weitgehend beendet, und von der Aufbau Ausgabe (A) stehen umfangreiche Teile noch aus. Alle drei haben ihre Verdienste und Vorzüge, ja, es ist berechtigt zu sagen, daß sie im Laufe von nur zwei bis drei Jahrzehnten unser Fontanebild unwiderruflich verändert und unendlich erweitert haben. Alle auch haben den Fontanelesern und -forschern eine Fülle bisher unveröffentlichter Texte erschlossen, so — um nur wenige Beispiele zu nennen — N die vollständigen Theaterkritiken, H die Erzählfragmente und A Entwürfe der Romane und Fontanes Tunnelprotokolle.
Da in A die theoretischen Texte Fontanes noch ausstehen, kommt nur N für einen Vergleich mit dem hier in Frage stehenden Band von H in Betracht. Er enthält die Schriften „Zur deutschen Geschichte, Kunst und Kunstgeschichte", und daher muß man zu mehreren Bänden von N greifen, um das entsprechende Material vor sich zu haben, nämlich zu den Reprints der Kriegsbücher und dem Band „Politik und Geschichte" (XIX) und zu den beiden Bänden mit den „Aufsätzen zur bildenden Kunst" (XXIII, 1 und 2). Diese decken sich nun aber nicht mit H III.5, sondern überschneiden sich auch mit H III.1 („Aufsätze und Aufzeichnungen") und H III.2.1 („Reiseberichte"), wo die verschiedenen Kunstbetrachtungen aus England und auf dem Weg dahin („Eine Kunstausstellung in Gent") ihren Platz haben. Während also N in den Schriften zur Kunst eine thematische Gliederung verfolgt, vereinigt H III.5 Texte, die bei ihrer thematischen Divergenz (einerseits Geschichte, andererseits Kunst und Kunstgeschichte) offenbar durch das Etikett „deutsch" zusammengehalten werden sollen. Das ist für eine Zeit wie die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, die so prononciert in nationalen Kategorien dachte, durchaus zu vertreten, führt aber in diesem Fall nicht zu Aufschlüssen über Fontanes geistige Welt, weil die Kriegsbücher unter so anderen Vorzeichen entstanden als die Berichte über die Berliner Kunstausstellungen, in die historisches oder gar politisches Denken kaum eingeflossen ist. Was aber die beiden Abteilungen noch verbindet, ist, daß ihre Texte fast durchweg aus der mittleren Zeit Fontanes stammen, die im Verhältnis zur Fülle der von Fontane publizierten Arbeiten seine am wenigsten erforschte Lebensperiode darstellt — nicht zuletzt deshalb, weil die Literaturwissenschaftler in ihr die im engen Sinn literarischen Texte vermissen. Der Dichter schwieg ja rund 25 Jahre lang und trat erst 1878 mit „Vor dem Sturm" wieder an die Öffentlichkeit. H III.5 zerfällt also in zwei Teile, die gesondert betrachtet zu werden verdienen.
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