Heft 
(1989) 47
Seite
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elf einzelnen Kapitel der Untersuchung Hohendahls einen ganz gewichtigen eigenen Beitrag leistet zur Transparenz kultureller Prozesse, sei trotz unterschied­licher methodologischer Akzentsetzungen von uns hervorgehoben. Beeindruckend ist das diffizile Eindringen in die vielfältigsten, die Literatur auf die eine oder andere Weise tangierenden Bereiche wie Traditionsbildung und Literaturkanon des Nachmärz, Institutionalisierung der Literaturgeschichte, Bildungspolitik und Lesebücher und die Soziologie des literarischen Publikums. Die Stärke der Arbeit Hohendahls liegt vor allem in der detaillierten Ausfüllung des von ihm definierten Institutionsbegriffs, in der Nachvollziehbarkeit eines Prozesses, in dem sich Literatur zum eigenständigen Bestandteil bürgerlicher Öffentlichkeit etabliert. Daß der Begriff Öffentlichkeit mitunter verschwommen und widersprüchlich inter­pretiert und verwendet wird, beeinträchtigt im Ganzen nicht den Aussagewert der einzelnen Teiluntersuchungen, vielmehr wird hier auch auf die Notwendigkeit für neue Denkansätze in der marxistischen Theorie hinsichtlich einer gesellschaft­lichen Selbstverständigung zu diesem Terminus besonders hingewiesen. Hohen- dahl favorisiert das materialistische Denkmodell in seiner den Begriff Öffentlich­keit korrelierenden Institutionstheorie, besonders Althusser und Benjamin. (S. 45) Daß in einer umfangreichen Darstellung der literarischen Kultur durch die Be­griffe Öffentlichkeit und Institution Desiderata auftreten (Künstlervereinigungen, literarische Kreise, Akademiegründungen in der bildenden Kunst u. a. m.) sei weniger kritisch denn anregend vermerkt. Über Anregungen hinausgehend, erweisen sich Hohendahls Bemerkungen zu den vergleichenden Aspekten der außerliterarischen Bedingungen zwischen den verschiedenen europäischen Län­dern (S. 59 ff.), da sie neue Aus- bzw. Ansichten zur komparatistischen Forschung durch die Erweiterung doch bisher überwiegend praktizierter diachroner und synchroner literarischer Analyse vermittelt. Gerade hier scheint sich ein inno­vationsimmanentes Untersuchungsfeld anzubieten, das Hohendahl zwar nur streift und das doch für die Zukunft ganz neue Fragestellungen für die vergleichende Literaturwissenschaft bereithält. Versucht man, diesen Weg konsequent weiter­zugehn, so stellt sich die Frage, inwieweit der Verf. in seiner Darstellung der Kritik der liberalen Öffentlichkeit" das europäische Phänomen der Entstehung einer Literatur der Moderne reflektiert, da ja gerade sie sich bewußt jederInsti­tutionalisierung" verweigert. Ist nicht gerade die Prämoderne und Moderne in der europäischen Literatur und bildenden Kunst ein Indiz für die relativ frühe Des­integration von Teilen der bürgerlichen Kunst aus der so akribisch beschriebenen Institutionalisierung? Die Reduktion derklassischen Öffentlichkeit" (S. 111) kompensiert sich doch nicht nur in einer proletarisch grundierten Gegenöffent­lichkeit, sondern auch und zuerst im Bürgertum. Es bleibt abzuwägen, ob nicht Differenzierungsbewegungen innerhalb der bürgerlichen Kultur für viele Künstler (z. B. C. F. Meyer) von wichtigerer Bedeutung für ihr Schaffen waren, als die im Kapitel 10 analysierteKultur für das Volk",sozialistische Konzeptionen" oder religiöse Kritik des Liberalismus".

Trotz der hier vorgebrachten Einwände läßt sich zusammenfassend feststellen, daß die Lektüre der Arbeit Hohendahls einen nicht abzustreitenden Gewinn dar­stellt. Die Untersuchung erfüllt umfassend den Anspruch eines Handbuches oder Standardwerkes zum literarischen Bedingungsgefüge im Deutschland des 19. Jahr­hunderts. Eine künftige Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts wird an Hohen­dahls Untersuchung nicht Vorbeigehen können!

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