Heft 
(1989) 47
Seite
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Literarisches Leben in Berlin 18711933. Studien I. u. II. Bd. Hrsg, von Peter Wruck. Berlin: Akademie-Verlag 1987. 393 S. / 358 S.

(Rez.: Volker Giel, Leipzig)

Längst schon gehört der Begriff .Literarisches Leben' zum festen Inventar der neueren Literaturgeschichtsschreibung und avancierte sogar vielerorten zu so etwas wie einer modernen Zauberformel in den literaturwissenschaftlichen Debat­ten der Gegenwart. Daß dieses Phänomen seit geraumer Zeit auch in den Über­legungen der DDR-Germanistik eine nicht unwesentliche Rolle spielt, ist mit­nichten ein Geheimnis. Warum auch? Wird hierin doch ein genuines Anknüpfen an Grundfesten marxistischer Literaturbetrachtung, die ja von jeher Literatur in ihrer gesellschaftlichen Eingebundenheit und Funktionalität beschrieben und begriffen hat, sichtbar, das darüber hinaus neue Möglichkeiten eröffnet, durch weiterreichende, kontextuelle Zugriffsmethoden Literatur in komplexer Weise von ihren Entstehungs-, Verbreitungs- und Wirkungsbedingungen her als Teil menschlich-kommunikativen Handelns tiefergehend zu erfassen.

Nun liegt mit den beiden StudienbändenLiterarisches Leben in Berlin 1871 1933" rechtzeitig zu den 750-Jahrfeiern der Stadt im Jahr 1987 erschienen ein erstes konkretes Ergebnis solcher Art Bemühungen in unserem Lande vor. Ganz sicher wird und muß weiteres folgen. Das Verdienst, den bekanntlich immer schwierigen ersten Schritt getan und sich einer kritischen Öffentlichkeit gestellt zu haben, gebührt aber diesem aus einem Forschungsvorhaben an der Sektion Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangenen und unter Leitung von Klaus Hermsdorf und dem Herausgeber Peter Wruck stehenden Projekt.

Auf insgesamt 750 Seiten sind hier 18 Aufsätze von größtenteils ausgewiesenen und renommierten Fachwissenschaftlern, vorrangig der Berliner Universität, der Akademie der Wissenschaften und einiger anderer Institutionen, wie der Säch­sischen Landesbibliothek Dresden, der Staatlichen Museen zu Berlin und der Universität Greifswald, aber auch ausländischer Kollegen (David Bathrick, USA; Flemming Hansen, Dänemark; Wienczyslaw A. Niemirowski, VR Polen) vereinigt. Die Palette der aufgegriffenen Gegenstände und Themen ist breit und für den Zeitraum der verhandelten sechs Dezennien auch durchaus repräsentativ zu nennen. Neben Aufsätzen über Schriftsteller, wie z. B. Fontane, Przybyszewski, Sudermann und Hauptmann und prägnanten Persönlichkeiten der literarischen Öffentlichkeit des damaligen Berlins, wie die Literaturwissenschaftler Georg Brandes, Wilhelm Scherer und Walter Benjamin, den Kritiker Paul Lindau oder den Gewerkschaftsführer und Verleger Johann Sassenbach stehen darüber hinaus Beiträge, die sich mit Institutionen, wie etwa der Preußischen Dichterakademie, mit Gruppierungen und Bewegungen, wie der Ukrainischen Schriftsteller- und Künstlerkolonie, dem Frühexpressionistenzirkel um Georg Heym oder der Ver­bindungen vom Dada zur proletarisch-revolutionären Literatur schlagenden Avantgarde der zwanziger Jahre um Franz Jung beschäftigen. Aber auch litera­rische Debatten, wie die der Theaterrezeption um den jungen Brecht in der Berliner Presse, die Rundfunktheoriediskussion, kulturpolitische Phänomene, wie der nationalsozialistische .Kulturkampf', eine Skizze der künstlerischen Kommu­nikationsbeziehungen Dresdens mit Berlin nach der Jahrhundertwende oder etwa ein Aufsatz über die Dichterdenkmäler der Stadt finden sich hier, was den breit­gefächerten inhaltlich-methodischen Ansatz des Unternehmens nur unterstreicht.

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