Sicherlich könnte man beckmesserisch Einwände dahingehend erheben, daß besser noch dies oder jenes andere oder anstatt Vorhandenem aufzunehmen gewesen sei. Doch das wäre wohl eher billige als wirklich produktive Kritik. Zumal es nie im Sinne des Herausgeberkonzepts war, sich auch nur in den Sog zu irgendwelcher Art positivistischer Vollständigkeitsmanie zu begeben. Warum aber gerade in den Darstellungen das so wichtige Gebiet der Trivial- und Massenliteratur und auch das der einflußstarken reaktionär nationalistischen Strömungen gänzlich ausgespart bleibt, diese Frage zu stellen, kommt man trotzdem nicht umhin.
Anliegen der beiden Studienbände ist es auch keineswegs in historisch synchroner und systematischer Weise etwa einen in sich geschlossenen literaturgeschichtlichen Überblick oder Abriß zu geben. Vielmehr erklärt Peter Wruck in seiner Einleitung den methodischen Ansatz gerade in einer Abgrenzung zu solcher Art von ,Zusammenhängen ... , welche die Literaturgeschichte herzustellen pflegt" (Bd. 1, S. 17). Die einzelnen Beiträge sollen statt dessen zeigen, „wie Berlin . . . zum entscheidenden Austragungsort der literarischen Überzeugungs- und Verdran- gungskämpfe avancierte, von denen die literarischen Gruppenbildungen und, daraus hervorgehend, die großen literarischen Bewegungen der Zeit begleitet wurden. Das war an Einzelfällen vorzuführen, von denen Licht auf den Berliner Naturalismus und Expressionismus, auf die revolutionär-avantgardistischen und proletarisch-revolutionären Bewegungen . . . fällt. Auch ohne selbst eigens zur Darstellung zu gelangen, werden sie von verschiedenen Seiten und manchmal vom Rande her miterfaßt, wobei die in den Texten angelegten Bedeutungsperspektiven für eine Proportionalität im literaturgeschichtlichen Sinne eintreten müssen ..." (ebd.). Der „beziehungsreiche(n) Sonderfall'', das „Miterfassen" (ebd.), die Korrelation, Parallele sowie der Kontrapunkt heißen so die darstellungsmethodischen Leitgedanken. Was Wruck vorschwebt, scheint klar. Ausgehend von besonderen Knotenpunkten soll gleichsam ein Netzwerk aufgebaut werden, das im Wechselspiel seiner Verbindungslinien sowohl zeit-, wie auch orts- und systemtypische Verhältnisse und Umstände des Phänomens Literatur erkennbar macht wie auch in Beziehung dazu, den individuellen Beitrag einzelner literarischer Persönlichkeiten mit ihren soziokulturellen Prägungen und Wirkungen in seiner gesellschaftlichen Virulenz zu verdeutlichen. Ein zweifelsohne unkonventionelles und anspruchsvolles Unternehmen, das zudem auf Entdeckungen programmiert scheint. Daß dieses Ziel aber zu einem Großteil, sowohl was die meisten der Einzelbeiträge als auch ihr Zusammenwirken, sozusagen den Ensemblecharakter, betrifft, nicht oder nur in recht unzulänglicher Weise erreicht wurde, hat m. E. folgende Hauptursachen.
Zum einen betrifft das die für ein Akademie-Verlags-Projekt doch sehr ungewöhnliche und damit besonders auffällige Theoriedürftigkeit. Ja man ist in diesem Fall fast dazu geneigt, von einer Art theoretischer Verweigerung zu sprechen. Das nur 11seitige essayistische Einleitungskapitel (P. Wruck) verzichtet sowohl auf die Diskussion von bereits vorhandenen Theoriebildungen zum anstehenden Thema wie auch darauf, selbst zielgerichtete Schritte zu unternehmen, den Zen- tralbegriff des literarischen Lebens definitorisch abzustecken bzw. abzuklären. Doch gerade dies wäre wohl notwendig gewesen. Denn summarische Verweise allein, wie die auf den vehementen Urbanisierungsprozeß Berlins zur modernen Metropole und zum „Hauptknotenpunkt der Kommunikation" (I, 15), der zum Faszinations- und Schreckbild einer neu zu erfahrenden Gesellschaftlichkeit wurde, auf die explosionsartige Entwicklung des kapitalistischen Kulturbetriebes
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