Heft 
(1989) 47
Seite
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lich als eine Ergänzung des Gesamtspektrums von Lebensformen des Berlins der Gründerzeit eine Rolle spielen, .Fontanopolis' im wesentlichen freigehalten bleibt vom Austrag offener Klassenkonflikte. Daß in Fontanes Berlin-Romanen die gesellschaftlich etablierten Gruppen ins Zentrum gerückt sind, entspricht demnach sowohl dem Modus der für den Dichter bestimmend gewesenen Wirklichkeits­erfahrungen wie auch der tatsächlich vollzogenen Spaltung der Gesellschaft in two nations".

Von daher, aber auch immer mit einem Blick auf die sich weiter kommerziali­sierenden Bedingungen des kapitalistischen Literaturmarktes (Verlagskonzentra­tion, Zeitschriftenwesen, Publikumssoziologie, hier mit interessanten Ansätzen der Mentalitätsforschung), zieht Wruck die Kreise um den Kern der literarischen Gestaltung Fontanes immer enger. Erst mit zunehmender persönlicher wie poli­tisch-institutioneller Unabhängigkeit und seiner sich stabilisierenden beruflichen und literarischen Stellung wichtig dafür v. a. seine Tätigkeit als Kreuzzeitungs­korrespondent, gelang es Fontane, in bewußter Abgrenzung von weltentrückter poetischer Selbstgenügsamkeit auf der einen sowie unterhaltungs- und gewinn­orientierter Tagesliteratur auf der anderen Seite sein alternatives literarisches Realismuskonzept zu entwickeln. Laut Wrucks Resümee war Fontanes poetisches Diktum immer zuerst darauf gerichtet, dem Aufstieg und Verfall von Lebens­formen/Sozialrollen nachzuspüren, in denen sich ihre Träger als Individuen konfliktaustragend zurechtzufinden hatten (vgl. I, 73). Und obwohl gerade mit dem Signum des Zuständlichen behaftet, werden so in seinen Werken die gesell­schaftlichen Ablösungserscheinungen jenes epochebestimmenden Zeitenwandels signifikant,der auch ihn vom alten Preußen zum modernen Berlin geführt hatte" (L 78).

Für die marxistische Fontane-Forschung in der DDR scheinen mir mit dieser Studie durchaus neue Maßstäbe gesetzt. Mit ihrem unkonventionellen Blickwinkel und den vorgenommenen Neubewertungen sollte sie impulsgebend und perspek­tivöffnend wirken. Aber gerade auch deshalb, dies sei hier noch kritisch an­gemerkt, ist es doch wohl als wenig dienlich anzusehen, wenn einige Anregungen, die aus früheren Forschungsarbeiten aufgegriffen wurden, nicht immer eindeutig als solche kenntlich gemacht sind. 2

Anmerkungen

1 Der Aufsatz unter dem TitelFontanes Berlin. Durchlebte, erfahrene und dar­

gestellte Wirklichkeit" wird den Lesern der Fontane-Blätter nicht unbekannt sein, da er eben dort bereits vorveröffentlicht wurde. Siehe FI. 41, 1986, S. 286-311 und H. 42, 1986, S. 398-415.

2 Gemeint sind hier zwei Arbeiten, in denen man zum Teil eine ganz ähnliche Gedankenführung wie bei Wruck finden kann: Gärtner, Karlheinz: Theodor Fontane. Literatur als Alternative, Bonn (Bouvier) 1978 und Liesenhoff, Carin: Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. Eine literatursoziologische Studie, Bonn (Bouvier) 1976.

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