Der Sinn des Romans wird folglich in «mehr Rücksicht auf die menschliche Schwäche" (S. 53) gesehen. Hier beeinträchtigen also konformistisch-behavioristi- sche Einflüsse die Sicht auf das vom Dichter gestaltete Menschenbild. Während Fontane im Interesse der Erörterung der Verjährungsproblematik die Handlung zeitlich auseinanderzieht, bei gleichzeitiger poetischer Intensivierung, hat sie Spielhagen novellistisch-dramatisch zusammengezogen, ohne poetische Dichte zu erreichen. Die mehrjährige Liebesbeziehung zwischen Frau von Ardenne und dem Amtsrichter Hartwich reduziert er im Werk auf knapp 2 Monate. Um am Adel, an der adligen Dame, die sich „zum Zeitvertreib" mit einem Bürgerlichen amüsiert, Moralkritik üben zu können, verleiht er Klothilde von Sorbitz bewußt negative Charakterzüge, obgleich er deren reales Vorbild, Elisabeth von Ardenne, wegen der Harmonie ihres Wesens bewunderte. Die Gestalt von Klothildes Geliebten, des Gymnasialprofessors Albrecht Winter, erklärt Tyrrell aus den inneren Widersprüchen von Spielhagens Adelsbeziehung zwischen Kritik am Adel und persönlichem Anerkennungsbedürfnis durch ihn. Das Triviale in der Figur des Gänsejungen aus dem Harz entgeht ihm ebenso wie die kitschigen Elemente in den Liebesgesprächen und die mangelnde differenzierte Sprachgestaltung überhaupt.
Die Kapitel 4 und 5 als zweiter großer Untersuchungskomplex gelten dem Vergleich der beiden Romane vor allem unter den Aspekten von Realismus und Objektivität. Spielhagen habe den Ardenne-Fall „so lange hin und her gedreht bis er darin die Möglichkeit entdeckte", ihn als „Vehikel" für seine Moralkritik am Adel benutzen zu können (S. 102). „Zum Zeitvertreib" sei damit ein typischer Tendenzroman.
Zu den wertvollsten Elementen der Untersuchung gehört der Nachweis der inkonsequenten Anwendung der Objektivitätstheorie durch Spielhagen selbst. Der Schriftsteller habe seine eigene Sicht der Objektivität, sein ästhetisches Prinzip, alles nur durch die Figuren auszudrücken, nur äußerlich, nur technisch angewandt, nicht inhaltlich. Es liege „eine starke Ironie darin, daß gerade Spielhagen vom Schicksal ausersehen war, um die Objektivitätstheorie für den Roman zu vertreten" (S. 151).
Fontane hingegen sei, ohne sich sklavisch an das sogenannte Objektivitätsgesetz Spielhagens zu halten, zu echter dichterischer Objektivität und wirklichem, nicht nur äußerlichem Realismus vorgestoßen. Kapitel 5 schließt mit folgendem gelungenen Vergleich: „Wenn man bei Fontane von einer Auffächerung der Perspektiven sprechen kann, die ein hohes Maß der Objektivität gewährte, kann man bei Spielhagen von einer Zufächerung reden, die dem oft tendenziösen Ausdruck seiner subjektiven dogmatischen Ansichten diente" (S. 163 f.). Damit ist nicht nur eine Einheit in der Sicht von Ideellem und Ästhetischem erzielt, sondern zugleich die notwendige Wendung zugunsten Fontanes im Verlaufe der Arbeit erreicht. Allerdings bleiben Objektivität und Realismus bei Fontane durch Formulierungen wie Fontane sei „von Natur . .. .objektiver' angelegt" (S. 152) und pragmatischer (S. 163) gewesen unzureichend erklärt. Bisweilen hat man den Eindruck, Tyrrell sei auf der Suche nach der künstlerisch-literarischen Bedeutung Spielhagens. Nur widerstrebend scheint er zu einer relativierenden Betrachtung Spielhagens vorzudringen. Die wirkliche Größe Spielhagens in der Beziehung zu Fontane hat er sich freilich entgehen lassen. Ich sehe sie in der direkten und indirekten Bewunderung von „Effi Briest". Ausdruck unmittelbarer, bewußter Anerkennung ist „die literarisch-ästhetische Studie .Die Wahlverwandtschaften' und ,Effi Briest'", die am 28. 3. 1896 im „Magazin für Literatur" als Spitzenbeitrag
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