Heft 
(2020) 109
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24 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte ­unmittelbar vor ihnen sich ausdehnenden Kleefeld und zwei nach links und rechts hin gelegenen Kornbreiten die Grenze zogen. 20 Es braucht einen Augenblick des Innehaltens, damit die Verwandlung vor sich gehen kann. Der Lilateppich aus Heidekraut und Weideröschen und das dunkelgrüne Sonnendach aus Tannenzweigen schaffen einen idealen Ort für das Alltags-Wunder, das Cécile erlebt, als sie das»Bild voll eigenen Rei­zes« entdeckt. Ihr Blick gleitet den sanften Abhang entlang in die Weite bis zum Hintergrund der dunklen Pappelgruppe und kehrt wieder zurück. Im Mittelgrund erkennt sie die auffälligen Zeichen der Wärterbuden, der Schlagbäume und roten Hausdächer; die Bahnlinie und das Dorf heben sich ab, im Vordergrund, am Rand der Korn- und Kleefelder, rahmt eine Doppel­reihe blühender Hagerosenbüsche die Komposition mit Rot- und Grüntö­nen. Ein Augenblick der Ruhe ist eingetreten. Unvermittelt belebt sich dann aber das Gemälde: Die Wagenreihe eines Eisenbahnzugs taucht auf und fährt durch den Mittelgrund in Richtung Berlin wie durch eine Modellland­schaft. Dann wieder Stille. Vom Fluss her hebt eine Brise an, streicht über die Kornfelder und den roten Mohn, und aus diesem Gewelle heraus löst sich eine flirrende Bewegung: Von jenseit der Bahn her kamen gelbe Schmetterlinge, massenhaft, zu Hunderten und Tausenden herangeschwebt und ließen sich auf dem Kleefeld nieder oder umflogen es von allen Seiten. Einige schwärmten am Waldrand hin und kamen der Bank so nahe, daß sie fast mit der Hand zu fassen waren./»Ah, Pierre,« sagte Cécile.»Sieh nur, das be­deutet etwas.« 21 Das ist die Epiphanie in der Epiphanie, und Cécile wird dabei von einer Empfindung ergriffen, die auch wir vor aller guten Kunst verspüren, näm­lich dass das alles ›etwas bedeutet‹. Pierre de St. Arnaud, der Gatte, entgeg­net lachend:»›O gewiß.(...) Es bedeutet, daß Dir alles huldigen möchte, ges­tern die Rosenblätter und heute die Schmetterlinge.« Die Neigung von Fontanes Figuren, Landschaften als eine Art Gemälde anzusehen, hat mit dem Aufstieg des Landschaftsbildes zur vollgültigen Kunstgattung im 19. Jahrhundert zu tun. Nachdem seit dem späten Mittelal­ter die religiöse Kunst zunehmend die absolute Herrschaft verloren hatte, beherrschten lange Zeit mythologische Szenen, das Historienbild und das Porträt die Hierarchie der Künste. Landschaften dienten bloß als Hinter­gründe für bedeutende mythologische oder geschichtliche Geschehnisse: Venus in der Muschel, Kaiser Karl V. hoch zu Ross nach der Schlacht bei Mühlberg, Napoleon, der mit dem sich gerade aufbäumenden Pferd die Al­pen überquert. In dem Maße jedoch, wie die einst bedeutsamen Gescheh­nisse und Figuren immer mehr zur Staffage schrumpften, wuchs der einsti­ge Hintergrund zur Weltlandschaft. Im Laufe des 17. Jahrhunderts büssten die Weltlandschaften zunehmend die Sinn gebenden Szenen ein und verwandelten sich in Wirklichkeitsan-