»Landschaftsbilder«,»Fensterbilder« Wegmann 31 Seit in Europa über Bilder theoretisch nachgedacht wird, seit dem 15. Jahrhundert etwa, ist das Fenster als Denkmodell benutzt worden, um zu erklären, was vorgeht, wenn wir ein Bild betrachten: Ein Gemälde durchbricht die Wand wie ein Fenster. Ein Bild ist also ein Fenster und umgekehrt. Für den Künstlerphilosophen Leon Battista Alberti(1404–1472) aus Florenz stellte jedes Gemälde ein»offenes Fenster«(aperta fenestra) dar, durch das der Betrachter in eine andere Wirklichkeit blickt, die aber doch der eigenen sehr gleicht, ein Rechteck, in dessen unsichtbarem Netzraster die Dinge der Außenwelt im richtigen Maß festgehalten sind.»Am Anfang trage ich auf der zu bemalenden Fläche ein Viereck mit rechten Winkeln von beliebiger Größe ein, das mir gleichsam als offenes Fenster dient, aus dem das Geschehen betrachtet werden soll«, formulierte er 1435 in seinem Malerei-Traktat De Pictura,»und darin skizziere ich Menschen von der Größe, wie ich sie auf dem Bild haben will.« 61 Fontane hat auf seiner Italienreise 1874 Bauwerke Albertis gesehen, und in der Literatur, die er für die Reise konsultiert hat, wird der Florentiner sicherlich gewürdigt worden sein. In seinen Reiseaufzeichnungen erwähnt er den Renaissancearchitekten und Theoretiker aber mit keinem Wort, auch nicht in den Briefen. Es ist also nicht zu belegen, dass er das Fenstermodell Albertis gekannt hat. Sicher aber hat er eine Menge Fensterbilder gekannt. Gerade im 19. Jahrhundert war das Motiv en vogue, 62 und einige der Maler, die Fontane persönlich gekannt oder deren Werke er gesehen hat, haben es in verschiedenen Varianten durchgespielt: Karl Friedrich Schinkel, Carl Gustav Carus, Carl Blechen, Caspar David Friedrich, Georg Friedrich Kersting, Max Klinger, Adolph Menzel, John Everett Millais, Franz Skarbina, Moritz von Schwind, Max Liebermann. Um die 70 Mal hat Fontane in seinen Romanen Fensterszenen inszeniert: Fenster von innen(60) oder von außen(7), offene oder geschlossene Fenster, große, kleine, runde, eckige. Fenster mit und ohne Figuren, Fenster mit Blick auf Stadtlandschaften(23) und solche in Naturlandschaften(12). Erstaunlicherweise kommen in Fontanes Erzählwerk fast alle wichtigen Fensterbild-Typen vor, welche die einschlägigen Kunsthistorikerinnen und-historiker im Nachhinein am Material eruiert haben. Als der Bummelstudent Hugo Großmann nach einem Sonntagsspaziergang zum großen Mietshaus an der Berliner Georgenstraße zurückkehrt, wo seine Verlobte Mathilde mit ihrer verwitweten Mutter drei Treppen hoch wohnt, steht der Hausbesitzer Rechnungsrat Schultze, der in der Gründerzeit mit Spekulationen rasch ein Vermögen erworben und in Häuser investiert hat,»in Sammtschlafrock und türkischem Fez am Fenster« und grüßt»gnädig hinunter, wobei er seinen Fez« zieht. 63 Das Fenster der Beletage ist offen und voll besetzt: Der Blick von unten zum saturierten Herrn, der wie ein Wächter in der Rahmung steht, macht dem Studenten klar, wie viel er zählt – gar nichts. Für eine Karriere muss erst seine tüchtige Verlobte Mathilde sorgen, die ihn im Studium antreibt und ihm eine Stelle
Heft
(2020) 109
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