»Landschaftsbilder«,»Fensterbilder« Wegmann 33 Die Szenerie – romantisches Notturno mit Paar – macht das Fenster zur Schwelle in die Zukunft: Es stehen der erfolgreiche Studienabschluss, die Heirat und das Bürgermeisteramt in Woldenstein bevor. Aber schon ein gutes Jahr später ist Hugo an Schwindsucht verstorben und Mathilde kehrt von Woldenstein an die Georgenstraße zurück. Sie schreitet auf den gleichen Palazzo zu und blickt auf dieselbe Fensterfront wie einst der nun Verstorbene. Alle Fenster scheinen geschlossen. Mathilde schaut»nach der dritten Etage hinauf ob sie die Alte vielleicht am Fenster sähe« 65 . Aber sie sieht nichts,»auch nicht in den andern Etagen«. Es ist ihr lieb,»ganz unbeobachtet zu sein«. Aber sie ist es nicht, denn»während sie über den Damm« geht, sagt»die Räthin die vom Frühstückstisch aufgestanden« ist und sich»ein Kuckloch zurechtgemacht« hat:»›Was sitzt Du wieder über der Zeitung. So was sieht man nicht alle Tage; sie hat blos schwarze Handschuh an und sieht aus als reiste sie nach Dresden und sächsische Schweiz. Regenmantel und Opernglas; fehlt blos noch der Alpenstock.‹« Durch einen Spalt im Rouleau spioniert die Frau des Hausbesitzers die Heimkehrende aus und befindet, die auffällige Aufmachung passe keinesfalls zu einer Trauernden. Mathilde hat tatsächlich nicht im Sinn, in Trauer zu versinken. Zwar gedenkt sie treu des Verstorbenen,»seine Photographie hängt(...) mit einer schwarzen Schleife über der Chaise longue« 66 , sie setzt aber ihre ganze Energie darin, eine Lehrerinnenausbildung abzuschließen und in den Schuldienst zu treten. Sie macht sich ganz selbständig. – Die Fensterbilder, von außen, von innen, offen oder geschlossen, besetzt oder leer, fangen das Ein- und Ausgeschlossensein der Figuren an der Georgenstraße ein. Ein Fenster braucht keine schöne Aussicht zu bieten, um das Gefühl behaglicher Leichtigkeit zu erzeugen, selbst beim Arbeiten. Zahlreiche Gemälde von nähenden oder stickenden Frauen an Fenstern zeigen das. Franz Skarbina hat das Motiv mehrmals gemalt, Fontane hat seine Bilder gekannt und ähnliche Szenen geschrieben. Die Außenwelt dringt bloß als zartes Lichterspiel ins häusliche Interieur, vielleicht hört man Geräusche von Karren oder Menschenstimmen, wie am Berliner Petrikirchplatz, wo Melanie Van der Straaten nach dem Frühstück auf ihrem hochlehnigen Stuhl am großen Eckfenster sitzt, mit ihrem in der Zeitung blätternden Gatten plaudert und einen Kanevas bestickt. Im Fensterrahmen steht das Bild eines winterlichen Marktes im»Flockentanz« 67 . – Am Kronprinzenufer im Norden des Tiergartens sitzt Armgard von Barby in der Nähe der offenen Balkontür,»in ihren Stuhl zurückgelehnt, die linke Fußspitze leicht auf den Ständer gestemmt« 68 , die Stickerei hat sie beiseite gelegt. Das Bild im Ausschnitt der Balkontür zeigt»die lange Reihe der herankommenden Stadtbahnwaggons(...), nicht zu nah und nicht zu weit«, und man sieht,»wie das Abendrot den Lokomotivenrauch durchglüht und in dem Filigranwerk der Ausstellungsparktürmchen schimmert«. – Stine
Heft
(2020) 109
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