34 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Rehbein, im Unterschied zu den beiden andern Damen eine Berufsstickerin von einfacher Herkunft, hat ihren Stickereirahmen neben dem Fenster des Frontzimmers aufgestellt, als der junge Graf von Haldern zu Besuch kommt. Während der Gast auf dem»schräg zur Seite stehenden Sofa Platz« nimmt, lässt Stine»in sichtlicher Erregung(...) de[n] orangefarbene[n] Faden von Flockseide(...) bei jedem neuen Stich« 69 im Licht aufblitzen. Im Fensterrahmen steht das Bild des Monds über dem umgitterten Invalidenpark und im Halblicht schimmert der helle Obelisk mit den über hundert Namen junger Menschen, die mit dem preußischen Schulschiff»Amazone« 1861 vor der niederländischen Küste untergegangen sind. 70 Diese Fensterbilder zeigen nicht bloß Umgebungskulissen, sie reichern die Szenen und Figurenzeichnungen an, vertiefen sie, öffnen den Lesern Zugänge zu anderen Erzählebenen. Das Eckfenster Melanie Van der Straatens zeigt das Sehnsuchtsbild eines»Flockentanzes«, in dem»zu steigen und zu fallen und dann wieder zu steigen« 71 sich die Protagonistin, eine künftige Ehebrecherin, sehnt, denn sie fühlt sich in ihrer Ehe eingesperrt. Vor dem Haus der Barbys ist alles Licht und Bewegung, während die still Dasitzende noch nichts davon weiß, dass sie sich bald verloben wird. Und an der Invalidenstrasse blickt man auf ein steinernes Denkmal für junge Tote: auch der kriegsversehrte junge Graf, der mit Stine auf das Denkmal blickt, wird nicht mehr lange leben. Stickende Frauen am Fenster – ein wiederkehrendes Motiv in Fontanes Romanen. Was das Fenster als gerahmte Wirklichkeit zeigt, hat oft eine bedeutsame Verbindung zur Lebenssituation der stickenden Frau. Franz Skarbina(1849–1910): Näherin am Fenster, o.J.(Abb. 9)
Heft
(2020) 109
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