Heft 
(2020) 109
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36 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte platz mit der Sonnenuhr und den Heliotropbeeten« 73 , auf die Schattenstrei­fen neben den weißen Lichtstreifen im Hof, auf die hohen Rhabarberstauden im herbstlichen Gelb. Dort unten war sie als Mädchen mit der Schaukel ge­flogen. Das Licht, in dem sie nun die kleinen Bildtitel über dem Sofa liest, stammt allerdings vom Mond, der alles in künstliche Helligkeit taucht und umkehrt, hell und dunkel, Tag und Nacht. Da unten hat Effi vor erst zwei Jahren, ein Mädchen noch, mit den Jahnkeschen Zwillingsmädchen ausge­lassen gespielt.»Und dann war sie, als der Besuch kam, die kleine Steintrep­pe neben der Bank hinaufgestiegen, und eine Stunde später war sie Braut« 74 , so erinnert sie sich nun am Fenster im Oberstock. An jenem Tag war Baron von Innstetten, ein früherer Verehrer ihrer Mutter, ins Haus gekommen und hatte um ihre Hand angehalten. Effi verstummte beim Anblick des Fremden auf der Gartensalonschwelle, kam in ein nervöses Zittern; aber nicht auf lange, denn im selben Augen­blicke fast, wo sich Innstetten unter freundlicher Verneigung ihr näher­te, wurden an dem mittleren der weit offen stehenden und von wildem Wein halb überwachsenen Fenster die rotblonden Köpfe der Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste, rief in den Saal hinein:»Effi, komm.« 75 Im Rahmen der Gartentür stand der künftige Gatte,»schlank, brünett und von militärischer Haltung« 76 , am umrankten Fenster tauchten wie im Guck­kasten die Freundinnen Bertha und Hertha auf,»kleine, rundliche Persön­chen, zu deren krausem, rotblondem Haar ihre Sommersprossen und ihre gute Laune ganz vorzüglich paßten« 77 . Zwischen diesen lebenden Bildern, dem künftigen Gatten im Türrahmen und den Freundinnen im umrankten Fenster, die verschreckte Effi, die in diesem Moment aus ihrem Paradies vertrieben wird. Am Fenster im Oberstock des Elternhauses treten nun»ungerufen aller­lei Bilder aus der Kessiner Zeit wieder vor ihre Seele« 78 , das Städtchen Kes­sin, wo Effi zwei Jahre mit Innstetten gelebt hat,»das landrätliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit dem Blick auf die Plantage, und sie saß im Schaukelstuhl und wiegte sich, und nun trat Crampas an sie heran, um sie zu begrüßen.« 79 Der Blick aus dem Fenster im oberen Flur des Kessiner Heims ging über die Dächer des Stadtrandes und die»Plantage« fort, auf eine hoch auf einer Düne stehende holländische Windmühle, nach der anderen Sei­te hin auf die Kessine, die hier, unmittelbar vor ihrer Einmündung, ziem­lich breit war und einen stattlichen Eindruck machte. Dieses faszinierende Kessiner Fensterbild,»›sehr schön, sehr malerisch‹« 80 , wie Gatte Innstetten kommentierte, bot die Ansicht einer kleinstädtischen Dächerlandschaft mit Umland, etwa so, wie sie Carl Blechen auf einem Bild dargestellt hat, das Fontane an der Berliner Jahresausstellung 1882 ent­deckte. 81