Heft 
(2020) 109
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42 Fontane Blätter 109 Kapiteltitel Helmut Graf Holks Galerie lebender Bilder 98 Dieser Graf Holk, obwohl kein eigentlicher Kunstkenner, denkt überhaupt oft an Bildwerke, wenn er mit Frauen zu tun hat. Eben ist er zum Kammer­herrendienst bei der Prinzessin Maria Eleonore nach Kopenhagen beordert worden und hat sich wie immer im Haus der Damen Hansen einquartiert, einem Zweifrauenhaushalt mit Mutter und Tochter. Die Mutter,»eine noch hübsche Frau von beinah fünfzig« 99 , ist Witwe, und der Gatte der schönen Tochter Brigitte befindet sich meist auf See. Diese Brigitte übt eine eigenar­tige Anziehung auf den Grafen aus, und Fontane umspielt diese Wirkung mit Verweisen auf Kunstwerke. Schon die erste Begegnung hat einen prä­genden Eindruck hinterlassen, denn»da wo muthmaßlich eine zur Küche führende Thür aufstand, fiel ein Lichtschein in den dunklen Flur hinein und in diesem Lichtscheine stand eine junge Frau, vielleicht, um zu sehen, noch wahrscheinlicher, um gesehen zu werden.« Der Anblick wirkt auf Holk wie ein»Bild« vielleicht holländische Schule(Abb. 3). Übrigens sind auch die Mietzimmer im oberen Stock arrangiert,»um gesehen zu werden«: die Böden mit schweren Teppichen bedeckt, Leuchter brennen, das Kaminfeuer flackert, die Möbel sind»mit Vasen und anderen chinesisch-japanischen Porzellansachen reich, aber nicht überladen ge­schmückt«, auf dem Sofatisch stehen Früchte. Das alles erzeugt»den anhei­melnden Eindruck eines Stilllebens« 100 , in dem man wohnen und leben kann. Oder Leben spielen? Die Spur nach Holland, wo die Kunst des Interieurs und des Stilllebens blühte, scheint sich zu bestätigen. Als Holk nach dem Abend­essen zur Dronningens-Tvergade zurückkehrt, empfängt ihn wieder die jun­ge Frau in»Rock und Jacke von ein und demselben einfachen und leichten Stoff, aber Alles, auf Wirkung hin, klug berechnet« wieder ein Bild in holländischer Manier, in der Hand hält sie aber»eine Lampe von ampelar­tiger Form, wie man ihnen auf Bildern der Antike begegnet.« 101 Mit gemes­senem Schritt geht sie voran und leuchtet dem Grafen mit der Ampel hinauf, wobei ihr der weite Ärmel zurückfällt und den schönen Arm freilegt. Später sinnt Holk darüber nach,»welche Göttin oder Liebende, mit der Ampel um­hersuchend, auf antiken Wandbildern abgebildet zu werden pflege« 102 , kommt aber zu keinem Schluss. Eine Frau mit Lampe, die Frau als Hüterin des Lichts ein archaisches Motiv. Aber wo hat er es nur gesehen? Holk ist auf dem Gebiet der Kunst nicht wirklich bewandert, seine Spe­zialgebiete sind Genealogien, die Agronomie, besonders die Stallhygiene, und das Bauen. Die Spur in die Antike ist aber kein Zufall, denn sein vor einigen Jahren im Stil Palladios erbautes Schloss Holkenäs, eine großzügi­ge klassizistische Villa am Meer mit rechteckigem Säulengang und Vorhal­le, wird von seinem Schwager scherzhaft»›Tempel zu Pästum‹« 103 genannt. Doch trotz dieses Antikenbezugs kann er das Rätsel ›Brigitte mit Ampel‹ nicht entschlüsseln. Ein mythologisch Bewanderter könnte leicht nachhel-