Heft 
(2020) 109
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54 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte über Karl Zöllner ›ich bewundre es‹ nichts anderes gewesen sein als eine pflichtschuldige Verbeugung, zu der auch Theodor Fontane sich genötigt sah in einer Zeit nahezu grenzenloser Goetheverehrung? Ich meine: nein. Um allerdings näher zu bestimmen, worin denn wohl das Bewundernswer­te des Goethe-Romans für den Autor von Effi Briest bestanden haben könn­te, bedarf es eines genaueren Vergleichs beider Romane. Dabei möchte ich mich an dieser Stelle beschränken auf die jeweils ersten beiden Kapitel: Ein­gangskapitel, die in ihrem expositorischen Charakter sowohl in den Wahl­verwandtschaften als auch in Effi Briest für den weiteren Verlauf der jeweili­gen Handlung von überragender Bedeutung sind. Bereits ein erster Blick offenbart deutliche Parallelen. Zunächst einmal sind die Schauplätze vergleichbar: dort ist es die schattige»Mooshütte« 5 im Park des ländlich gelegenen Schlosses von Eduard und Charlotte; hier ist es ein schattiger Ort auf der»Gartenseite« 6 des Herrenhauses Hohen-Crem­men mit seiner weitläufigen parkähnlichen Anlage. In beiden Romanen han­delt es sich also um Schauplätze, die durchaus geeignet sind, um Unterhal­tungen von ernstem Charakter zu führen. In den Wahlverwandtschaften führen Eduard und Charlotte ein solches Gespräch; ein Gespräch, in dem es nicht zuletzt um die Zukunft Ottilies geht. In Effi Briest hingegen unterhält sich Luise von Briest mit ihrer Tochter. Doch auch hier geht es, wenn auch verdeckt, um die Zukunft Effis, über die letztlich allerdings schon vorher entschieden worden ist. Dabei finden beide Unterhaltungen gewissermaßen in Fortsetzung statt. Das Gespräch zwischen Eduard und Charlotte wird im ersten Kapitel aufgenommen und»des andern Tags« 7 im zweiten Kapitel fortgeführt. Auch das Gespräch zwischen Effi und ihrer Mutter beginnt im ersten Kapitel, wird dann durch das Spiel Effis mit den eben eingetroffenen Freundinnen unterbrochen, um im zweiten Kapitel seine Fortsetzung und seinen Abschluss zu finden. Damit nicht genug: Nahezu beiläufig wird in beiden Romanen die so entscheidende Vorgeschichte in Handlung und Dia­log der Auftaktkapitel eingeflochten: dort die wechselvolle Liebesgeschichte Eduards und Charlottes bis zum heutigen Tag; hier die amouröse Vorge­schichte zwischen der damals noch jugendlichen Luise und dem ebenso jun­gen Leutnant Geert von Innstetten. »Der Anfang ist immer das entscheidende. Hat mans darin gut getroffen, so muß der Rest mit einer Art von innerer Nothwendigkeit gelingen« 8 , be­tont Theodor Fontane im Brief vom 3. Juni 1879 an Mathilde von Rohr. Effi Briest stellt dies unter Beweis nicht anders als Goethes Wahlverwandt­schaften. Und deshalb verdienen die beiden Romananfänge auch besondere Aufmerksamkeit. In der vollständigen Symmetrie seiner beiden Hälften erscheint das ­Gespräch zwischen Eduard und Charlotte zu Beginn der Wahlverwandt­schaften geradezu als Idealtypus einer von wechselseitigem Respekt getra­genen Kommunikation auf Augenhöhe. Am ersten Tag ist es Eduard, der den