56 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte »Nein.« 15 Unterhalb des vermeintlich von Liebe und Fürsorge getragenen Gesprächs öffnet sich ein Raum des Ungesagten, dessen Konturen im Wissen um die Beweggründe Luises nur noch deutlicher hervortreten, wenn es unmittelbar im Anschluss an Effis»Nein« heißt:»Und dabei lief sie auf die Mama zu und umarmte sie stürmisch und küßte sie.« Damit nicht genug. Luises vorgebliche Sorge,»Nicht so wild Effi, nicht so leidenschaftlich« 16 , ist in Wahrheit Ausdruck ihrer Befürchtung, dass Effis kindlicher Übermut unvorteilhaft auf Geert von Innstetten wirken könne. Doch die noch immer ahnungslose Tochter, erhitzt und zerzaust vom übermütigen Spiel mit den Freundinnen 17 , weiß die Mutter zu beruhigen: »[...] du weißt, ich kann auch rasch sein, und in fünf Minuten ist Aschenpuddel in eine Prinzessin verwandelt.« 18 Dann aber besinnt sich Luise eines Besseren und erkennt, dass es für einen Mann womöglich sehr viel reizvoller ist, ein Aschenpuddel vorgeführt zu bekommen. Indem sie Effi anweist, so zu bleiben, wie sie ist, verdeutlicht sich ein weiteres Mal der Charakter eines Gartengesprächs, in dem das verheimlichte Wissen und das strategische Geschick der Mutter dazu dienen, die hoffnungslos unterlegene Tochter den eigenen Wünschen gemäß zu lenken:»Frau von Briest aber[...] hielt plötzlich die schon forteilende Effi zurück, warf einen Blick auf das jugendlich reizende Geschöpf, das[...] wie ein Bild frischesten Lebens vor ihr stand, und sagte beinahe vertraulich: ›Es ist am Ende das beste, du bleibst wie du bist. Ja, bleibe so. Du siehst gerade sehr gut aus.[...] Ich muß dir nämlich sagen, meine süße Effi[...], daß Baron Innstetten eben um deine Hand angehalten hat.‹« 19 Zuletzt zückt Luise die höchste aller mütterlichen Trumpfkarten und gibt der überrumpelten Effi mit auf den Weg, was sie»von meiner klugen Effi« erwartet:»Er ist freilich älter als du, was alles in allem ein Glück ist, dazu ein Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten, und wenn du nicht ›nein‹ sagst, was ich von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig da, wo andere mit vierzig stehen.« 20 In Goethes Roman steht das Gespräch zwischen Eduard und Charlotte am Anfang einer Entwicklung, in der sich die wahlverwandtschaftliche Dynamik Zug um Zug entfaltet: Nach dem Erscheinen des Hauptmanns und dann Ottilies wird die auf dem Schloss herrschende Harmonie zwischen den Eheleuten zunächst unmerklich, dann immer rascher aus dem Gleichgewicht gebracht und schließlich zerstört. Es ist ein den Menschen Entzogenes – man mag es eine höhere Macht, ein Verhängnis oder Schicksal nennen – das die Katastrophe heraufbeschwört. Anders im Falle von Effi Briest. Hier markiert das Auftaktgespräch zwischen Mutter und Tochter den Ausgangspunkt einer nicht minder verhängnisvollen Entwicklung, in der die noch junge Effi im weiteren Verlauf ihres kurzen Lebens zum Spielball unterschiedlichster Interessen wird und schließlich daran zerbricht. Hier aber wäre es falsch, von einer höheren, den Menschen entzogenen Macht zu sprechen. Denn hier sind es die Wünsche und Interessen Luise von Briests,
Heft
(2020) 109
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