Heft 
(2020) 109
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58 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte der Charlotte. Im Unterschied zu Goethes Charlotte ist Luise von Briest noch immer mit ihrem ersten Mann verheiratet, dem sie aus familienpoli­tischem Kalkül das Ja-Wort gegeben hat, geben musste. Allerdings stirbt der erste Gatte bei Fontane nicht, um den Weg frei zu machen für eine auf Liebe gegründete Wiederverheiratung(mit Geert von Innstetten) im Ge­genteil: der Ritterschaftsrat von Briest ist ein»wohlkonservierter Fünfziger von ausgesprochener Bonhommie« 25 . Folglich gilt die Sorge auch nicht ei­ner»geliebten Pflegetochter« 26 , wie bei Goethe, sondern der eigenen Toch­ter und deren Zukunft. Und da passt es glänzend ins familienpolitische Kal­kül, dass der»alte Freund aus ihren Mädchentagen« 27 , der jetzige Baron von Innstetten, nicht nur eine außerordentliche Karriere hingelegt hat, sondern überdies noch immer ledig ist, trotz seiner achtunddreißig Jahre. Anders als Eduard für Charlotte, ist Geert für Luise nicht zu haben. Und so rückt Effi als Stellvertreterin an jene Stelle an der Seite Geerts, die die Liebe eigentlich Luise zugedacht hatte. Damals, als Charlotte sich noch auf ewig gebunden glaubte an den »nicht geliebten, aber geehrten« 28 ersten Gatten, hatte sie eine Verbindung zwischen dem bereits frei gewordenen Eduard und Ottilie in Erwägung gezogen. Dies erfahren wir aus einem Einschub des Erzählers im zweiten Kapitel der Wahlverwandtschaften:»Sie[Charlotte] hatte nämlich damals dem von Reisen zurückkehrenden Eduard Ottilien absichtlich vorgeführt, um dieser geliebten Pflegetochter eine so große Partie zuzuwenden; denn an sich selbst in bezug auf Eduard dachte sie nicht mehr.« Der Plan scheiter­te jedoch, weil Ottilie jedenfalls damals nicht»den mindesten Eindruck« 29 auf Eduard machte. Anders bei Fontane: Denn Effi,»das jugendlich reizen­de Geschöpf« 30 , hat durchaus Eindruck auf Geert von Innstetten gemacht. Und deshalb wird er gleich eintreffen, um nun um Effis Hand anzuhalten. All dies zeigt, wie Theodor Fontane auf der Grundlage einer genauen Lektüre der Wahlverwandtschaften das Vorgefundene aufgegriffen und in durchaus eigenständiger Weise umgearbeitet hat. Und dennoch wird Goethes Roman als zentrale Bezugsfolie von Effi Briest erkennbar. Neunzig Jahre nach dem Erscheinen der Wahlverwandtschaften bedient sich Fonta­ne dieses Romans als Vorlage, um seinerseits einen Ehebruchsroman zu verfassen, der der veränderten historisch-gesellschaftlichen Situation des Kaiserreichs Rechnung trägt. Dabei könnte man es belassen, wäre da nicht ein weiterer Roman, der in unübersehbarer Weise Fontane als zweite Bezugsfolie bei der Gestaltung seiner beiden Eingangskapitel von Effi Briest gedient hat. Ich meine Gustav Freytags Soll und Haben aus dem Jahre 1855. Bereits im Jahr seines Erscheinens hatte Theodor Fontane im Literatur­blatt des deutschen Kunstblattes Freytags Roman besprochen und als»erste Blüte des modernen Realismus« 31 ausdrücklich hervorgehoben. Nun aber gestaltet Fontane die Eingangskapitel seines berühmtesten Romans nicht nur in Auseinandersetzung mit Goethes Wahlverwandtschaften, sondern