Heft 
(2020) 109
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Obsolete Gesten Siegel und Brief  Ritter 69 wie gewöhnlich, nicht ganz kurz gefaßt zu haben. Im Briefeschreiben ist sie noch ganz die Dame des vorigen Jahrhunderts, obschon sie dem uns­rigen angehört und sich sogar den Tag von Austerlitz als ihren Geburts­tag ausersehen hat. Beiläufig die wenigst patriotische Tat ihres Lebens.« [] Franziska nahm den Brief zurück und las:»Ich bin noch altmodisch genug, meine liebe Franziska, Briefe durch Einlage zu schicken, in mei­ner Jugend tat man dies oft und gern, jetzt lächelt man darüber. Jede neue Zeit dünkt sich eben klüger als die vorausgegangene«. 23 Mit der Einlage von Briefen schafft der Erzähler narratologisch eine dop­pelte Perspektivierung, wie die ältere Germanistik gerne betont. 24 Interes­santer hinsichtlich einer kulturhistorischen Analyse des Textes ist jedoch die mentale Botschaft, die sich in der materialen Botschaft verbirgt: Durch die Einfuhr eines Portos für Standardbriefe stieg die Anzahl privater Brief­sendungen rasant an, Briefe wurden schmaler, flacher, die Tradition einge­siegelter Einschlüsse sank rapide, war dies doch einst primär ökonomisch bedingt. 25 Eingelegte Briefe oder versiegelte Quartbögen weisen in abge­schlossene Vergangenheiten und stehen zugleich ex contrario für die Lang­lebigkeit obsoleter Kulturtechniken. Obsolet ist auch der Brief Melusines an den alten Dubslav im Stechlin und zwar im doppelten Sinne. Dass der Brief gesiegelt ist mit Familienwappen fällt dem Empfänger auf, ebenso, dass er eine Einlage seiner Schwiegertochter Armgard beinhaltet:»Die meisten [Briefe] waren offen, Anzeigen und Anpreisungen, nur einer war geschlos­sen, ja sogar versiegelt. Poststempel: Berlin«. 26 Während die Botschaft des Siegelns im Stechlin mit dessen Materialität zusammenfällt, erzählt Fontane in Graf Petöfy nicht nur die ökonomische wie historische Obsoleszenz von Briefeinlagen und Versiegelungen, sondern Fontane verdeutlicht, wie in einem Siegel Botschaften kulminieren. Denn, in der Botschaft der Dinge sind Hermann Bausinger zufolge»stets die Ablage­rungen der Gebrauchs- und Gefühlswerte enthalten, mit denen Menschen im Lauf der Geschichte die Dinge überzogen und ausgestattet haben«. 27 Der kleine Siegelring, den die fremdgehende Ehefrau des Grafen ver­wahrt, trägt einen, wie der den Ring bewundernde Numismatiker Graf ­Pejevics anmerkt, Ring oder Petschaftsspruch eines Protestanten.[]»Eines Protestan­ten?« fragte Judith neugierig.»Wessen?« »Thomas Carlyles.« »Und der Spruch selbst?« »Entsage!« Niemand antwortete. 28 Der Spruch besteht aus einem Wort, ist also kein Spruch und ziert damit bereits die gesamte Stempelfläche des Siegels, welches nicht zum Siegeln taugt, aber für die Geschichte steht: Denn die Ehe zwischen dem alten Gra­fen und der jungen Schauspielerin ist im Grunde keine. Nach Bruno Latour