Obsolete Gesten – Siegel und Brief Ritter 69 wie gewöhnlich, nicht ganz kurz gefaßt zu haben. Im Briefeschreiben ist sie noch ganz die Dame des vorigen Jahrhunderts, obschon sie dem unsrigen angehört und sich sogar den Tag von Austerlitz als ihren Geburtstag ausersehen hat. Beiläufig die wenigst patriotische Tat ihres Lebens.« […] Franziska nahm den Brief zurück und las:»Ich bin noch altmodisch genug, meine liebe Franziska, Briefe durch Einlage zu schicken, in meiner Jugend tat man dies oft und gern, jetzt lächelt man darüber. Jede neue Zeit dünkt sich eben klüger als die vorausgegangene«. 23 Mit der Einlage von Briefen schafft der Erzähler narratologisch eine doppelte Perspektivierung, wie die ältere Germanistik gerne betont. 24 Interessanter hinsichtlich einer kulturhistorischen Analyse des Textes ist jedoch die mentale Botschaft, die sich in der materialen Botschaft verbirgt: Durch die Einfuhr eines Portos für Standardbriefe stieg die Anzahl privater Briefsendungen rasant an, Briefe wurden schmaler, flacher, die Tradition eingesiegelter Einschlüsse sank rapide, war dies doch einst primär ökonomisch bedingt. 25 Eingelegte Briefe oder versiegelte Quartbögen weisen in abgeschlossene Vergangenheiten und stehen zugleich ex contrario für die Langlebigkeit obsoleter Kulturtechniken. Obsolet ist auch der Brief Melusines an den alten Dubslav im Stechlin und zwar im doppelten Sinne. Dass der Brief gesiegelt ist – mit Familienwappen – fällt dem Empfänger auf, ebenso, dass er eine Einlage seiner Schwiegertochter Armgard beinhaltet:»Die meisten [Briefe] waren offen, Anzeigen und Anpreisungen, nur einer war geschlossen, ja sogar versiegelt. Poststempel: Berlin«. 26 Während die Botschaft des Siegelns im Stechlin mit dessen Materialität zusammenfällt, erzählt Fontane in Graf Petöfy nicht nur die ökonomische wie historische Obsoleszenz von Briefeinlagen und Versiegelungen, sondern Fontane verdeutlicht, wie in einem Siegel Botschaften kulminieren. Denn, in der Botschaft der Dinge sind Hermann Bausinger zufolge»stets die Ablagerungen der Gebrauchs- und Gefühlswerte enthalten, mit denen Menschen im Lauf der Geschichte die Dinge überzogen und ausgestattet haben«. 27 Der kleine Siegelring, den die fremdgehende Ehefrau des Grafen verwahrt, trägt einen, wie der den Ring bewundernde Numismatiker Graf Pejevics anmerkt, Ring oder Petschaftsspruch eines Protestanten.[…]»Eines Protestanten?« fragte Judith neugierig.»Wessen?« »Thomas Carlyles.« »Und der Spruch selbst?« »Entsage!« Niemand antwortete. 28 Der Spruch besteht aus einem Wort, ist also kein Spruch und ziert damit bereits die gesamte Stempelfläche des Siegels, welches nicht zum Siegeln taugt, aber für die Geschichte steht: Denn die Ehe zwischen dem alten Grafen und der jungen Schauspielerin ist im Grunde keine. Nach Bruno Latour
Heft
(2020) 109
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