Heft 
(2020) 109
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70 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte hat jedes Objekt ein Script und damit ein Potential, einen eigenen Aufforde­rungscharakter mit der Option, Akteure zu versammeln, auch in der Erzäh­lung des Dings. 29 Die gescheiterte Ehe des Grafen ist in den Siegelring ein­geschrieben und gleichermaßen ausgelagert, denn hier entsagt vorerst niemand. Die Tatsache, dass Siegelringe seit jeher mit Formen der Machtübertra­gung und Legitimation verbunden sind, macht das Ringlein Franziskas umso faszinierender, zumal hier keine Übertragungen von Autorität, son­dern von tieferliegenden Wahrheiten geschehen. 30 Die Dämonie der Post Im Stechlin sind versiegelte Briefe immer auffällig, nicht nur für den jungen Woldemar. Brief und Siegel sind miteinander verbundene Topoi und verwei­sen auf die intersubjektive Verbindung zwischen Absender und Adressat. Die Selbstverständlichkeit dieser Handlungsabläufe wird im Fehlen der Versiegelung augenfällig. Ganz nebenbei erfahren wir ex negativo in Effi Briest(1896), wie sich diese Artefakt-Kategorie selbst überlebt hat. Der moderne Alonzo Gieshüb­ler, Apotheker und heimlicher Bewunderer Effis im Örtchen Kessin durch­bricht die Tradition des Siegelns: Erstens schreibt er keine Briefe, sondern Billetts und zweitens siegelt er nicht, sondern beklebt seine Billetts mit al­bernen Abziehbildchen. Und genau dies stiftet Verwirrung und Bewunde­rung: Aller Unmut auf Effis Antlitz war sofort verschwunden; schon bloß Gies­hüblers Namen zu hören tat Effi wohl, und ihr Wohlgefühl steigerte sich, als sie jetzt den Brief musterte. Zunächst war es gar kein Brief, sondern ein Billett, die Adresse»Frau Baronin von Innstetten, geb. von Briest« in wundervoller Kanzleihandschrift und statt des Siegels ein aufgeklebtes rundes Bildchen, eine Lyra, darin ein Stab steckte. Dieser Stab konnte aber auch ein Pfeil sein. Sie reichte das Billett ihrem Mann, der es eben­falls bewunderte. 31 Dem Anthropologen André Leroi-Gourhan zufolge existiert ein Werkzeug, ein Artefakt real nur in der Geste, in der es technisch wirksam wird. 32 ­Fontane überschreibt diese Gesten und zeigt von Graf Petöfy über Effi Briest bis zum Stechlin konsequent ihr Obsoletwerden im Modus der Auffällig­keit. Wie Gert Selle betont, ist es»oft das Nichtbeachtete, in dessen Schatten sich unbemerkte kulturelle Prozesse vollziehen«. 33 Genau dieser Prozess ist bei Effi und Innstetten voll im Gange. Es handelt sich bei dem Abziehbild­chen gewissermaßen als Siegel-Surrogat um ein scheinbar triviales Detail einer Kommunikation. Doch»Das unscheinbare Ding entzieht sich dem Denken am hartnäckigsten«, um mit Martin Heidegger zu sprechen. 34 Das