Heft 
(2020) 109
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Obsolete Gesten Siegel und Brief  Ritter 71 An-Sich-Sein des Dings wird erst bemerkt, wenn die Beziehung zum Men­schen in der Weise gestört ist, dass die Zuhandenheit des Dings als Zeug abhandenkommt, wenn also das Ding auffällig, aufdringlich oder aufsässig wird. 35 Genau dies geschieht in Blick und Hand Effis. Die unbewusste Er­wartung einer versiegelten Botschaft weicht der bewussten Erfahrung ihrer Überwindung oder zumindest Infragestellung im Fehlen eben jener. Das Billett Gieshüblers bleibt hier aber vorerst eine moderne Ausnahme. Die Versammlung von Ding und Mensch und die darin scheiternde Reprä­sentation lässt sich noch einmal nach Bruno Latour als Auflösung einer Sozialstruktur mit a priori gegebener Form ansprechen. Das Handeln im Siegeln oder Bekleben von Briefen und Billetts offenbart sich als eigentüm­liche Bewegung des Wiederversammelns und erneuten Assoziierens und öffnet letztlich das Soziale auf alle Entitäten, die an einer Handlung beteiligt sein können. 36 Ordnung in die Erwartung an die Dinge bringt schließlich Briefträger Böselager nach Bad Ems zu Effi: »Nun, Böselager, was bringen Sie?« Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten und packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt auch einen großen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten, geb. von Briest. Die Empfängerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder. Die Zwicker aber überflog die Friseuranzeigen und lachte über die Preis­ermäßigung von Shampooing. Effi hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief zwi­schen den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche Scheu, ihn zu öffnen. Eingeschrieben und mit zwei großen Siegeln und ein dickes Kuvert. Was bedeutete das? Poststempel:»Hohen-Cremmen«, und die Adresse von der Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der fünfte Tag, keine Zeile. Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die Längs­seite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue Überra­schung. Der Briefbogen, ja, das waren eng beschriebene Zeilen von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten Pa­pierstreifen drum herum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie schob das Konvolut zurück und begann zu lesen, während sie sich in den Schaukel­stuhl zurücklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm den Brief wieder auf. »Was ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte Nachrichten?« Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie getrunken, sagte sie:»Es wird vorü-