Heft 
(2020) 109
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72 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte bergehen, liebe Geheimrätin, aber ich möchte mich doch einen Augen­blick zurückziehen... Wenn Sie mir Afra schicken könnten«. 37 Hier fallen zwei Zeitläufte ineinander: Shampoo-Werbeanzeigen und versie­gelte epistolare Kommunikation. Einschreiben, zwei große Siegel und das dicke Kuvert affirmieren die»Damönie der Post« 38 und lassen keine Zweifel zu, nicht über den Absender und nicht über den Ernst der Lage. Die Zeit der Abziehbildchen ist vorbei. Die kulturtechnische Überkompetenz des Absen­ders ist erdrückend. Und dennoch: Brief und Siegel sind Stellvertreter einer sich in Auflösung befindenden Sozialstruktur. In diesem Schwebezustand offenbart sich das Versiegeln oder Bekleben von Briefen und Billetts als ei­gentümliche Bewegung zwischen Altem und Neuem, zwischen Konvention und Innovation, mehr noch, das Versiegeln materialisiert jene Prozesse. Nach Latour kann Repräsentation die Dynamik eines Kollektivs bezeichnen, also alle Fragen der gemeinsamen Welt und Welterfahrung beständig neu präsentieren und darin die Zuverlässigkeit der Wiederaufnahme prüfen. 39 Bei Fontane scheitern letztlich Absender wie Adressaten in der Reprä­sentation und Dynamik der Kommunikationsstrukturen, sowohl Tante Adelheid und Woldemar, als auch subtiler Gieshübler, Effi und ihre El­tern. Der von Adelheid durch das altertümliche Siegel und den ebenfalls unmodischen Quartbogen evozierte Wille zu Repräsentation scheitert durch ihre Unfähigkeit, Autorität herzustellen, ganz im Gegenteil, Brief und Siegel agieren kontrafaktisch. Für Effis Wahrnehmung gilt dies tragischerweise nicht. Das Scheitern ihres Aufbegehrens wird mit Brief und Siegel quittiert und zwar doppelt mit zwei Siegeln und ebenso im Verlust von Ehe, Kind und gesellschaftlichem Status. Überkommene Konventionen und das Ende der Metapher Poststempel und Versiegelungen dienen Fontanes Figuren als erste Orien­tierung über den Absender der von ihnen empfangenen Post, wie dies am deutlichsten in der epistolaren Kommunikation von Tante Adelheid im Stechlin hervorgeht. Dass auch die Handschrift sowie die Titulatur der An­rede Hinweise auf den oder die Absender geben oder zumindest Unruhe stiften, erfährt Gert von Innstetten in Effi Briest: Nun war es eine Viertelstunde nach acht, und er klingelte. Johanna brachte das Frühstückstablett, auf dem neben der Kreuzzeitung und der Norddeutschen Allgemeinen auch noch zwei Briefe lagen. Er überflog die Adressen und erkannte an der Handschrift, daß der eine vom Minis­ter war. Aber der andere? Der Poststempel war nicht deutlich zu lesen, und das»Sr. Wohlgeboren Herrn Baron von Innstetten« bezeugte eine glückliche Unvertrautheit mit den landesüblichen Titulaturen. Dem ent­sprachen auch die Schriftzüge von sehr primitivem Charakter. Aber die