Heft 
(2020) 109
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Obsolete Gesten Siegel und Brief  Ritter 73 Wohnungsangabe war wieder merkwürdig genau: W. Keithstraße I C, zwei Treppen hoch. 40 Innstetten erbricht zunächst den offiziellen versiegelten Brief, um dann»den zweiten Brief mit dem unleserlichen Poststempel« 41 und der ungelenken An­rede, über die sich sein Kollege und Freund Wüllersdorf bereits amüsiert, zu lesen. Der Brief des Hausmädchens Roswitha Gellenhagen aus Kessin, in dem sie Innstetten bittet, den Hund Rollo der leidenden Effi überlassen zu dürfen, stellt sich genau zwischen die mit Selbstverständlichkeit gesiegelten Briefe von Fontanes aristokratischen Figuren und denjenigen Briefen, de­nen jede Konvention verlustig geht, beziehungsweise nie inhärent war. In Mathilde Möhring(postum 1906) geht den Figuren jede überkommene Briefkonvention verlustig. Der Brief der Mutter an Mathilde verrät den Hia­tus zwischen sozialer Herkunft und gesellschaftlichen Vorstellungen, wie Mathilde beim Entgegennehmen der Briefe erahnt: Einer war aus Breslau, also wahrscheinlich eine Rechnung oder ein Ver­zeichnis, der andre eine Vermählungsanzeige Rybinski[s](aber mit einer andern Dame) und der dritte von der alten Frau Möhring.»Frau Burge­meister Großmann, geb. Möhring. Woldenstein in Westpreußen.« Die Buchstaben waren so steif gekritzelt wie auf einem Waschzettel.»Gott«, sagte Thilde,»wenn Mutter bloß nicht immer geborne Möhring schrei­ben wollte. Möhring ist doch zu wenig« 42 . Bei der alten Möhring bricht die sonst bei Fontanes Briefeschreiberinnen und Briefeschreibern so auffallende Akkuratesse ab: Eine Schrift wie auf einem Waschzettel, keine Angabe von Absender und natürlich kein Siegel­abdruck. Woher auch? Siegeln ist Anspruch, der als Signatur des Absen­ders diesen historisch legitimiert. Dass sich bestimmte Milieus nicht selbst dokumentieren und perpetuieren, zeigt die Briefkultur der alten Möhring. Mit Didier Eribon gesprochen: Die Gesellschaft weist Plätze zu, errichtet Grenzen und bringt Individuen und Gruppen in eine hierarchische Ord­nung. Als ein Faktor erweist sich dabei das weitgehende Fehlen von Histo­rizität, Genealogie der sog. Arbeiterklasse und das quasi automatische Auf­und Fortschreiben von Geschichte in großbürgerlichen und aristokratischen Schichten: Abgesehen von wenigen mündlichen Überlieferungen, die meist konfus und bruchstückhaft sind und sich mit den Jahren verlieren, haben Men­schen aus der Arbeiterklasse praktisch keine Ahnung von ihrer eigenen Geschichte. Für Arbeiter sind die drei Generationen, die noch am Leben sind und die wenigen kleinen Gegenstände und Anekdoten, die man be­sitzt, meistens schon alles. In aristokratischen oder bürgerlichen Famili­en ist das völlig anders.[] In der zyklischen Wiederkehr der Generatio­nen[] vermischt sich die Familiengeschichte mit der Geschichte schlechthin. Das Haus[der Familie] ist Zeuge der Abstammung und des Stammbaums, der materielle und symbolische Träger einer Genealogie. 43