Heft 
(2020) 109
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74 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Materielles Signum wie symbolische Geste dieser Aufschreibesysteme sind im 19. Jahrhundert Siegel, durch die sich adlige wie bürgerliche Familien quasi von selbst fortschreiben. Die alte Möhring indes hat keine genealogische Fortschreibung qua Sie­gel zu perpetuieren, Mathilde ebenso wenig, auch wenn sie den sozialen Aufstieg geschafft und den Namen Großmann nomen est omen behalten wird. Mathilde braucht keine Siegel, sie wird sich selbst zum Siegel, mehr noch, zur Gemme, also einem einst ebenso zum Siegeln produzierten Schmuckstein: Dies geschieht mittels einer Übertragung, und zwar der da­mals gängigen Gleichsetzung von Spiegelbild und Fotografie, mitsamt der darin befindlichen Problemstellungen von Ausschnitthaftigkeit und der Frage nach Authentizitätsanspruch des Mediums. 44 Die Medienwandel in Mathilde Möhring gestalten sich dann auch rasant: Die Selbstwahrnehmung der Protagonistin wandert von der Fotografie bzw. der eigenen Betrachtung im Spiegelbild in den Vergleich zu einer klassischen Gemme. Mathilde hat ein Gemmengesicht sagt man, zumindest schnappt sie die Bemerkung eines Halenseer Keglers über sie auf, und»von diesem Worte lebt sie seit­dem«. 45 Zunächst stellt sich Mathilde dann auch nur noch en profil vor den Stehspiegel. Und tatsächlich sie hatte wirklich ein Gemmengesicht, und auf ihre Photographie hin hätte sich jeder in sie verlieben können, aber mit dem edlen Profil schloß [es] auch ab, die dünnen Lippen, das spärlich angeklebte, aschgraue Haar, das zu klein gebliebne Ohr, daran allerhand zu fehlen schien, alles nahm dem Ganzen jeden sinnlichen Zauber, und am nüchternsten wirk­ten die wasserblauen Augen. Sie hatten einen Glanz, aber einen ganz prosaischen, und wenn man früher von einem Silberblick sprach, so konnte man hier von einem Blechblick sprechen. 46 Der Erzähler lässt Mathildes Spiegelbild in keinem guten Licht erscheinen. 47 Doch dem verträumten Hugo Großmann geht das Profil über alles:»Des Menschen Bestes sind Ahnungen. Und sie hat solch Profil, Gemme, streng und edel und einen kleinen Fehler am Auge«. 48 Der Fehler, der Blechblick also macht den Unterschied. 49 Ein Gemmengesicht ist auch nicht immer das, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Im Grunde ist es bloß Silhouette, Seitenansicht, Ausschnitt, Kontur. Denn, die Halbedelsteine, aus denen in der Antike Gemmen geschnitten wurden, hatten nicht selten kleine Ein­schlüsse im Stein, also Materialfehler. Dies spielte beim Abdruck des eige­schnittenen Profils jedoch keine Rolle, fällt ja nicht einmal auf. Jedes Gem­mengesicht ist also zunächst negativ in den Stein geschnittenes Bild, welches sich im Akt des Siegelns entfaltet. Eine nicht zum Siegeln bestimmte Gemme wird ihrer eingeschriebenen Funktion nicht gerecht und bleibt letztlich Tand. Und als Schmuckstück lebt es ich auf Dauer nicht gut, Cécile, Franzis­ka Franz und Effi können ein Lied davon singen.