Heft 
(2020) 109
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Obsolete Gesten Siegel und Brief  Ritter 75 Mathildes Blechblick, ihr prosaischer Glanz beschert ihr eine solide Men­schenkenntnis und gelassenen Pragmatismus. Und das wiederum sichert ihr emotionales und ökonomisches Überleben in einer durch gesellschaftli­che Normen und Grenzen von Männern dominierten Welt. Damit tritt sie gewissermaßen aus der Metapher und ebenso aus der Obsoleszenz des Sie­gelns heraus. Und Fontanes moderne Mathilde ahnt das auch:»Das mit dem Gemmengesicht mag ja wahr sein, und ich glaube selbst, daß es wahr ist. Aber ich kann doch nicht immer von der Seite stehn« 50 . Nicht von der Seite stehen und die Briefe nicht mehr zu versiegeln, das ist die Moderne, die Mathilde Möhring eröffnet. Fazit Das ubiquitäre Siegeln in den Romanen Fontanes reflektiert Pedanterie, Lust an Ordnung und Markierung, in gewissem Sinne auch Legitimierung durch Verfahren, um mit Niklas Luhmann zu sprechen. 51 Fontane erzählt, wie der Akt des Versiegelns Ordnungssysteme sichtbar macht, wie Gebrauchsrouti­nen fortgeschrieben werden und vor allem, wie diese im Moment ihrer zu­nehmenden Obsoleszenz hinterfragt werden. Fontanes Figuren selbst sind es, die diese Bewegungen verzeichnen, sie verhalten sich im Moment des Kontakts mit versiegelten Briefsendungen auffällig: Nach und nach dringt den Figuren, besonders Woldemar im Stechlin, Franziska Franz in Graf ­Petöfy und natürlich Effi, Alonzo und Innstetten in Effi Briest in einem hier ganz historistischen Sinne ins Bewusstsein, dass sie sich in einer histo­risch gewordenen Zeit befinden, die sich nicht unbedingt ausschließlich ab­strakt auf einem Zeitstrahl, sondern mitunter in Materialitäten, Traditionen, Gesten und Kulturtechniken bemerkbar macht. Mit einem zunehmenden Wissen um die vielen jeweils für sich gültigen und in sich abgeschlossenen historischen Zustände und der damit verbundenen Erkenntnis, dass»alles und jedes geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist« 52 , emp­finden Fontanes Figuren die Bedingtheit der eigenen Zeit zunehmend als zeitgebunden, und Wandlungen machen sich nach und nach bemerkbar, gipfelnd in Mathilde Möhring, die dann wirklich jede obsolete Geste zu überwinden vermag. Effi, Woldemar und in diesem Falle besonders Mathil­de Möhring spüren die Obsoleszenz tradierter Formen epistolarer Kommu­nikation und darin auch sich selbst an einer Epochenschwelle befindend. Die Obsoleszenz des Versiegelns führt zwar nicht zur Eigenerfahrung einer Zeitenwende, aber zu einem Schwellenbewusstsein en miniature. Die­se Schwelle tritt Fontanes Figuren immer dann ins Bewusstsein, wenn die Materialität des Siegelns, die Formate des Papiers, die Techniken des Ver­sands auffällig werden, widerspenstig, sprich, wenn die Ordnung der Dinge anfängt, unordentlich zu werden.