Der»jüdische Fontane« Muhs 89 nachdem ich das Stück im Kulturbund gesehen habe. Ist natürlich nichts wert, gefiel mir aber sehr!« 43 In der Auseinandersetzung mit Fontane und Georg Hermann darf das Beispiel der Familie Scholem als geradezu repräsentativ gelten für das gehobene Berliner Judentum. 44 Religiös indifferent, kulturell assimiliert und politisch freisinnig, waren sie in ihrem Selbstverständnis als patriotische Bürger durch die Jahre seit 1914 schwer erschüttert worden. Die seit Generationen im Familienbesitz befindliche Buchdruckerei wurde von den beiden älteren, national-liberal gesinnten Söhnen Reinhold und Erich weitergeführt, die 1927 wie selbstverständlich zu den Gründ ungsm itgliedern des Fontane-Abends gehörten, während die beiden jüngeren aus Rebellion gegen den Geist ihres Elternhauses, zumal den autoritären Vater, und den Chauvinismus der Kriegsja hre, neue Wege gegangen waren. 45 Werner Scholem hatte sich, durch das Fronterlebnis zum Pazifisten geworden, dem Sozialismus verschrieben und sollte in den Zwanziger Jahren zeitweilig als KPD-Abgeordneter wirken. Obwohl seit Jahren aus der Partei ausgeschlossen, wurde er im Gefolge des Reichstagsbrandes Ende Februar 1933 verhaftet und 1940 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. 46 Der jüngste Scholem-Sohn Gerhard dagegen suchte und fand Erfüllung in der zionistischen Jugendbewegung, wobei es ihm zuvörderst um eine Wiederbelebung des jüdischen kulturellen Erbes ging, weniger um Staatsbildung. Auch für Georg Hermann markierte die Erfahrung des Ersten Weltkriegs einen Wendepunkt in seinem Selbstverständnis. 47 Als Dichter»derer, die im Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft den kürzeren ziehen«, so hatte hellsichtig eine im übrigen sehr wohlwollende Würdigung seines Werkes bereits im Dezember 1914 gemutmaßt, passe er nicht recht in eine Zeit,»deren wundervollstes Erlebnis in der heroischen Unterordnung der Einzelpersönlichkeit unter die Not und den Willen der großen Allgemeinheit besteht.« 48 In der Tat fiel es Georg Hermann schwer, vorbehaltlos in den Ruf nach nationaler Geschlossenheit einzustimmen. Sein Individualismus und seine Weltoffenheit ließen ihn zum Außenseiter selbst unter den deutschen Juden werden, die sich von einem bedingungslosen Kriegseinsatz ihre endliche Anerkennung als vollgültige Deutsche versprachen. Zunehmend desillusioniert, aber unfähig zur Arbeit an einem größeren Werk, entstand eine Vielzahl kurzer, unverbundener Texte – Aphorismen, Reflexionen, Anekd oten aus dem Alltag und Marginalien zur Zeitungslektüre –, die 1919 unter dem Titel Randbemerkungen gesammelt als Buch erschienen. 49 Auf seiner Suche nach Orientierung hatte sich der lesehungrige Gerhard Scholem, von früher her mit einigen von Georg Hermanns Werken vertraut, einiges von der Lektüre versprochen. Die Distanzierung des Autors von der »Gemeinheit« des wilhelminischen Deutschland während der Kriegsjahre imponierte ihm auch, obwohl er sich fragte,»was etwa in der Vossischen Zeitung 1914 von ihm geschrieben sein mag??« Dass sich Georg Hermann da
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(2020) 109
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