Heft 
(2020) 109
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90 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte nichts vor­zu­wer­fen hatte, ließ den Kern von Scholems Kritik allerdings unbe­rührt: Eini­ge»sehr gute und selbst ein paar tiefe Sätze« ausgenom­men, sei das»sehr müde und fast ver­härmte Buch« letztlich»Zeug­nis einer ver­wir­ren­den Un­diffe­ren­ziert­heit«. Der Autor halte sich ab­seits, un­ter­gra­be aber nicht ein­m­­ al, vom Aufbauen ganz zu schwei­gen. Die bloße Ab­kehr von einem nationalistisch aufgeladenen Deutschtum,»untätig und rein be­trach­tend«, ohne gleichzeitig für eine natio­nale Wieder­geburt des Juden­tums ein­z­ utreten, empfand der 22-jäh­ri­ge Kritiker, der 1923 nach Palästina aus­wandern sollte und sich seit­her Gershom nannte, als Ausweis von Al­tersschwäche. Dabei zählte Georg Hermann 1919 gerade ein­mal 48 Jahre. In seiner Äquidistanz nach beiden Seiten hin, so Scholem, pflege der Autor ein Be­wusst­sein,»das ihn überall in der Welt zu­hause sein lässt(jedenfalls glaubt er das)«. Sein abschließendes Urteil über die Randbemerkungen mußte folglich negativ ausfallen:» Diese Art Weltbürgertum der Ju­den, das er kri­tiklos an­zue­­ r­kennen scheint, ist ja un­frucht­b­ ar und mehr: es ist nur allzu häufig ver­flucht, was gleich­mäßig von flüchten und flu­chen kommt.« 50 Zweifellos wollte Georg Hermann weder ausschließlich Jude sein, noch auch als Deut­scher sich zur Unterdrückung anderer Elemente seiner Identi­tät verpflichtet fühlen. Beides gleicher­maßen zu pflegen und in dieser Dop­pelung respektiert zu werden, erwies sich aber wäh­rend der Nach­kriegsjahre mit ihrem wachsenden Anti­semi­tis­mus als immer schwieriger. Nie­mand habe früher daran gedacht, so heißt es 1926,»im Buch und Stück eines Schnitzler das Werk eines Juden und Semiten, in dem eines Hauptmann das eines Christen und Ger­ma­nen zu sehen. Beides war deutsche Li­te­ratur. Oder in dem eines Stephan George die Dichtung eines Chri­sten, in dem eines ­Hof­mannsthal oder Werfel die Dichtung eines Juden. Beides waren formal vollendete Verse in deutscher Spra­che.« Jetzt würde ständig ge­fragt:»Hats ein Jude oder ein Christ geschrieben, ein Semit oder ein Germane?« 51 Infol­gedessen sei er, wie im Buchtitel Der doppelte Spiegel angedeutet, auch sel­ber ins Schwan­ken geraten»über meine Ab­kunft, über meine Rasse, über meine Mentalität, meine Zugehörigkeit zu einer Religions­ge­sellschaft, in die ich hine­ in­geboren wurde, und über den Wert oder Unwert meiner Um­ge­bung, des Volkes, dem ich der Nationalität nach an­gehöre.« 52 In der Dis­kussion, ob Volks­zug­ e­h­ örigkeit nun religiös oder ethnisch begründet sei, nur biologisch zu ererben oder auch kulturell zu erwerben, rief Georg ­Hermann einmal mehr Fon­tane zum Zeugen auf. Her­kunft von außen müs­se kein Mangel, könne vielmehr von Vorteil sein, weshalb er für sich als deut­scher Schriftsteller»das große Glück, Jude zu sein«, re­kla­mier­te,»wie ­Fontane das Glück hatte, deutsch­spre­chender Franzose zu sein. Das heißt, ich hatte das Glück, hinein­ge­bo­ren zu sein in den Her­zens­mittelpunkt des damaligen Deutsch­lands, und zugleich Distanz zu haben. Ich wurde weder gefördert noch allzusehr behindert.« 53 Letzteres hätte Fontane zweifellos