Der»jüdische Fontane« Muhs 91 unterschrieben, obwohl es ihm, bei allem Stolz auf seine hugenottischen Vorfahren, wohl nie eingefallen wäre, sich als deutschsprechender Franzose auszugeben. Von der Möglichkeit und Wünschbarkeit einer kulturellen»Amalgamierung« 54 von religiösen Minderheiten, seien es Calvinisten oder Juden, war er allerdings überzeugt. Auch der aus dem Posenschen gebürtige jüdische Völkerpsychologe Moritz Lazarus hatte neben sich selber zweifellos seinen Freund Fontane vor Augen, als er 1880, während des sogenannten Berliner Antisemitismusstreites, über die Frage»Was ist national?« nachdachte. Wie Menschen germanischer Abstammung Schweizer oder Amerikaner werden könnten, so argumentierte er, könnten Menschen mit nichtgermanischen Vorfahren zum deutschen Volk gehören, ob sie nun jüdischer oder slawischer Abkunft seien oder eben auch französische Kolonisten:»Wird es jemand wagen, ihnen die deutsche Nationalität abzusprechen? Sie stammen von Franzosen, aber sie sind Deutsche, obgleich ihre Geschlechter meist viel kürzere Zeit in deutschen Landen leben als die Juden.« 55 Antisemiten hätten damals wohl noch ausnahmslos dagegen protestiert, die Nachfahren von protestantischen Glaubensflüchtlingen in einem Atemzug mit Juden zu nennen, aber zwei Generationen später war auch jemand wie Fontane nicht mehr vor rassistischer Ausgrenzung sicher. Etablierte Germanisten wie Julius Petersen pflegten zwar weiter sein Werk, aber ambitionierte Nachwuchskräfte zogen klare Schlüsse aus der nationalsozialistischen Ideologie. So heißt es 1938 in einer Leipziger Dissertation, Fontanes »französische Wesenszüge« könnten dem Leser zwar Freude»an einem geschlossenen, heiter-liebenswürdigen Kunstwerk« verschaffen, doch: Wer mit ausgesprochen deutschen Lebensfragen und ‑forderungen besonders an die Werke der Mittelzeit herangeht, wer Antwort auf eigenes Fragen bei ihm zu finden hofft, der wird zu einem großen Teil enttäuscht sein, da Fontane nicht in die Lebensmitte des deutschen Menschen vorstößt. Je stärker eine Zeit sich auf die eigene nationale Wesenheit besinnt, desto mehr werden ausgesprochen deutsche Dichter die literarische Anteilnahme auf sich ziehen. 56 Eine Fontane-Renaissance hätte es jedenfalls auch bei längerer Dauer des Dritten Reiches kaum gegeben. Wohl aber mag die ambivalente Stellung des Dichters, einerseits zum deutschen Kulturbetrieb zu gehören und doch etwas abseits zu stehen, für Georg Hermann und andere jüdische Leser seiner Werke von besonderer Attraktivität gewesen sein. Was seine eigene Position angeht, so darf Georg Hermann als jemand, der aller religiösen Praxis fern stand und von betont deutsch-nationalen Juden ebenso wenig hielt wie von national-jüdischen Bestrebungen, als Prototyp der von ihm so genannten»Westjuden« gelten, die sich, kosmopolitisch, aufgeklärt-säkular und gleich weit entfernt von Orthodoxie und Zionismus,
Heft
(2020) 109
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