Heft 
(2020) 109
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Der»jüdische Fontane« Muhs 91 un­ter­schrie­ben, obwohl es ihm, bei allem Stolz auf seine huge­notti­schen Vorfah­ren, wohl nie ein­ge­fallen wäre, sich als deutsch­sprechender Franzo­se auszugeben. Von der Möglichkeit und Wünschbarkeit einer kulturellen»Amalgamie­rung« 54 von reli­giö­sen Minderheiten, seien es Calvi­nisten oder Juden, war er allerdings überzeugt. Auch der aus dem Po­sen­schen gebürtige jüdische Völkerpsychologe Moritz Lazarus hatte neben sich selber zwei­fellos seinen Freund Fontane vor Augen, als er 1880, während des sogenannten Berliner Anti­semi­tis­musstreites, über die Frage»Was ist natio­nal?« nachdachte. Wie Men­schen ger­manischer Ab­stam­mung Schwei­zer oder Ame­ri­ka­ner wer­den könnten, so argumentierte er, könn­ten Men­schen mit nichtgermani­schen Vor­fahren zum deut­schen Volk gehören, ob sie nun jüdischer oder slawi­scher Ab­kunft seien oder eben auch fran­zö­sische Kolo­ni­sten:»Wird es je­mand wagen, ihnen die deutsche Nationalität ab­zu­spre­chen? Sie stam­men von Franzosen, aber sie sind Deut­sche, obgleich ih­re Ge­schlechter meist viel kür­zere Zeit in deut­schen Lan­den leben als die Juden.« 55 Antisemiten hätten damals wohl noch ausnahmslos da­gegen protestiert, die Nachfahren von protestantischen Glaubensflüchtlingen in einem Atem­zug mit Juden zu nennen, aber zwei Generationen später war auch jemand wie Fontane nicht mehr vor rassistischer Ausgrenzung sicher. Etablierte Germanisten wie Julius Petersen pfleg­ten zwar weiter sein Werk, aber am­bitionierte Nachwuchskräfte zogen klare Schlüsse aus der nationalsozialis­tischen Ideologie. So heißt es 1938 in einer Leip­ziger Dis­ser­tation, Fontanes »fran­zö­si­sche Wesenszüge« könn­ten dem Le­ser zwar Freude»an einem ge­schlos­se­nen, heiter-lie­bens­wür­di­gen Kunst­werk« ver­schaffen, doch: Wer mit aus­ge­spro­chen deut­schen Le­bens­fra­gen und ‑for­de­run­gen be­son­ders an die Werke der Mittel­zeit herangeht, wer Antwort auf eige­nes Fra­gen bei ihm zu finden hofft, der wird zu einem großen Teil enttäuscht sein, da Fontane nicht in die Le­bens­mitte des deutschen Men­schen vor­stößt. Je stärker eine Zeit sich auf die eigene na­tio­nale We­senheit besinnt, desto mehr werden aus­ge­sprochen deutsche Dich­ter die litera­ri­sche An­­teil­nahme auf sich ziehen. 56 Eine Fontane-Renaissance hätte es jedenfalls auch bei längerer Dauer des Dritten Reiches kaum gegeben. Wohl aber mag die ambivalente Stellung des Dichters, einer­seits zum deutschen Kulturbetrieb zu gehören und doch et­was abseits zu stehen, für Georg Hermann und andere jüdische Leser seiner Werke von besonderer Attraktivität gewe­sen sein. Was seine eigene Position angeht, so darf Georg Her­mann als jemand, der aller reli­giösen Praxis fern stand und von betont deut­sch-nationalen Ju­den ebenso wenig hielt wie von na­tional-jüdischen Bestre­bun­gen, als Proto­typ der von ihm so ge­nann­ten»West­j­uden« gelten, die sich, kosmopolitisch, aufge­klärt-säkular und gleich weit entfernt von Ortho­doxie und Zionismus,