92 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte in Deutschland, der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt fühlten und somit der europäischen Moderne zugehörig. 57 »Die Weste unter dem Rock des anständigen Europäers« sei das Judentum für ihn immer gewesen, heißt es in einem Essay aus dem Jahre 1935, eng anliegend, aber eben nicht der ganze Anzug. Insofern kann es kaum überraschen, dass ostjüdische Charaktere in seinen Romanen durchweg kritisch gezeichnet sind. Mit dieser Einstellung, die assimilierte Juden in ihren Vorbehalten bestätigte und ihnen daher ebenso gefiel wie Antisemiten der milderen Observanz, dürfte Georg Hermann lange repräsentativ gewesen sein für seine deutsch-jüdischen Zeitgenossen, bis der Aufstieg des Nationalsozialismus ihre Identität in den Grundfesten erschütterte. Revisionsbedürftig erschien nach 1933 nicht zuletzt der tief verwurzelte Anti-Zionismus, wie sich Gershom Scholems Mutter kopfschüttelnd eingestehen mußte:»Wenn ich bedenke, was für ein Geschrei sich in der deutschen Jüdischkeit erhob, als der Zionismus begann! Unser Vater u. Väterchen Hermann L. u. der ganze Centralverein schlugen sich überzeugt an die Brust ›Wir sind Deutsche‹. Jetzt wird uns mitgeteilt, daß wir keine Deutschen sind.« 58 Georg Hermann sah dagegen in der Vertreibung aus Deutschland keinen Grund, seine Meinung zu ändern:»Der Zionismus und Palästina sind ein Zurückdrehen der Uhr um Jahrhunderte für den europäisierten Juden.« 59 So oder ähnlich lautet es immer wieder in seinen Stellungnahmen aus dem Exil. Dass er recht behalten hatte mit seiner im Ersten Weltkrieg gewonnenen Überzeugung, übersteigerter Nationalismus sei kein Mittel zur vollständigen Integration der deutschen Juden, sondern letztlich eine Existenzb edrohung, dürfte mit dazu beigetragen haben, dass ihm jüdischer Nationalismus ebenfalls suspekt blieb. Während rings um ihn alle Gewißheiten zerfielen, brach Georg Hermann noch 1937 trotzig Eine Lanze für die Westjuden. 60 Als seine Tochter zwei Jahre später zionistische Sympathien zu erkennen gab, hielt er ihr entgegen, erstens sei die Welt schon aufgeteilt und nirgendwo Platz für einen Judenstaat.»Zweitens bin ich aber dagegen, weil ich 50 Jahre fast ohne jeden Antisemitismus zugebracht habe, in einer Welt, in der er als der niedrigste, barbarischste Geschmack des letzten Pöbels galt, und überwundenen Zeiten angehörig. Und diese Zeiten werden wiederkommen,... selbst wenn Rückschläge und starke Rückschläge sogar eintreten.« Nach den Ausschreitungen der»Kristallnacht« geschrieben und nur wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, in dessen Verlauf die nationalsozialistische Judenverfolgung zum Völkermord eskalieren sollte, lassen sich diese Sätze als Zeugnis eines verzweifelten Optimismus interpretieren oder schlicht als Verblendung. Die Wiederkehr besserer Zeiten möge zwar, so heißt es weiter,»für ein einzelnes Menschenleben etwas langsam« kommen, aber dass sie kommen würde,»und zwar nach bestimmten Gesetzen und in bestimmten Zeitläuften«, stand für Georg Hermann fest.
Heft
(2020) 109
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