Heft 
(2020) 109
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Der»jüdische Fontane« Muhs 95 schmust«, bezeichnet. 71 Fon­t­ane wäre im Ge­gen­satz dazu als vor­neh­mer al­ter Herr zu charakterisieren, der mit poeti­scher Ver­klä­r­­ ung über man­ches hin­weg­geht(was jugend­liche Leser heute oft nicht reali­sie­ren läßt, dass Effi Briest und Crampas eine Affäre hatten). Während sein oben vorgestellter Brief an Mat­hilde von Rohr aus­drücklich be­tont, er habe»natürlich nicht die Skan­dal-Stel­len« aus dem ent­lie­he­nen Buch ex­zer­piert, kam­ der­gleichen bei Georg Her­mann of­fen und aus­führlich zur Spra­che. Damit verbunden war auch eine Verschiebung der Schauplätze. Es gebe in Berlin»ein Georg Her­mann-Gebiet, wie es ein Fontane-Gebiet gibt«, bemerkte der Literaturkriti­ker Arthur Eloesser in einer Würdigung zum 60. Geburtstag des Autors.»Er hat sich daneben angebaut.« 72 Die An­siedlung einiger seiner späteren Ro­manstoffe im zwielichtigen Milieu des Berliner We­stens war auch der Grund, weshalb Georg Hermann im Feuille­ton gelegent­lich als»Fontane des Kur­fürstendamms« apo­stro­phiert wurde. 73 Rea­lis­mus ohne Verklärung entsprach zwar dem ge­wandelten Zeit­geist des frühen 20. Jahr­hunderts, er­regte aber zu­gleich den besonderen In­grimm von An­ti­semi­ten. Bar­tels zum Bei­spiel hatte schon bei Er­schei­n­ en von Jett­chen Gebert moniert, es werde»die Weiber­jägerei der Juden« mit einem ge­wis­sen Stolze her­vor­ge­ho­ben.»Der Gedanke, daß die deut­schen Leser seines Wer­kes sich da­rüber ent­rü­sten könnten, daß Töchter ihres Volkes, und wenn es auch nur arme Dienst­mäd­chen sind, hier als hilflose Beute frecher Juden gezeigt werden, scheint Hermann gar nicht ge­kommen zu sein.« 74 Ideologiekritische Überlegungen ent­gegen­gesetzter Art hat un­längst Franka Marquardt ang­ estellt. Im Wissen um den Holocaust könnten Georg Hermanns Romane nicht mehr un­be­fan­gen gelesen werden, da die Schicksale der Haupt­akteure einer­seits»nicht jü­disch ge­nug« seien, die Dar­stel­lung ostjüdischer Neben­figuren aber vielfach anstößig wirken müs­se. 75 Ob sich die nachlassende Rezeption im Kern auf diesen Faktor reduzie­ren läßt, darf jedoch bezweifelt werden. Unbestreitbar ist, dass sich Georg Hermanns Werk als sehr viel stärker zeitgebunden er­wiesen hat als dasjenige von Fontane, obwohl die Welt, in der jeder von ihnen lebte und die ihre Welt­sicht präg­te, gleichermaßen ver­sunken ist. Unbeschadet der Ein­sicht in die Ohn­macht des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Zwängen, wie sie am Schicksal seiner Ro­manfiguren deutlich wird, hatte sich Georg Hermann viel von dem charak­teristischen Fortschrittsglauben der Reichsgründungsgeneration be­wahrt. Diese Selbst­täu­schung sollte nicht nur ihn das Leben kosten. Die Erinne­rung an sein schreck­liches Ende hat freilich nur begrenzt neues Interesse an sei­nen Werken erwecken können. Wert­volle Zeit­z­ eug­nisse blei­ben sie aber allemal, und als Repräsentant und lite­ra­ri­scher Apologet der nicht-zioni­sti­­schen»West­j­uden« deut­scher Spra­che wird Georg Her­mann im kul­turellen Ge­dächtnis fort­leben.