Der»jüdische Fontane« Muhs 95 schmust«, bezeichnet. 71 Fontane wäre im Gegensatz dazu als vornehmer alter Herr zu charakterisieren, der mit poetischer Verklär ung über manches hinweggeht(was jugendliche Leser heute oft nicht realisieren läßt, dass Effi Briest und Crampas eine Affäre hatten). Während sein oben vorgestellter Brief an Mathilde von Rohr ausdrücklich betont, er habe»natürlich nicht die Skandal-Stellen« aus dem entliehenen Buch exzerpiert, kam dergleichen bei Georg Hermann offen und ausführlich zur Sprache. Damit verbunden war auch eine Verschiebung der Schauplätze. Es gebe in Berlin»ein Georg Hermann-Gebiet, wie es ein Fontane-Gebiet gibt«, bemerkte der Literaturkritiker Arthur Eloesser in einer Würdigung zum 60. Geburtstag des Autors.»Er hat sich daneben angebaut.« 72 Die Ansiedlung einiger seiner späteren Romanstoffe im zwielichtigen Milieu des Berliner Westens war auch der Grund, weshalb Georg Hermann im Feuilleton gelegentlich als»Fontane des Kurfürstendamms« apostrophiert wurde. 73 Realismus ohne Verklärung entsprach zwar dem gewandelten Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts, erregte aber zugleich den besonderen Ingrimm von Antisemiten. Bartels zum Beispiel hatte schon bei Erschein en von Jettchen Gebert moniert, es werde»die Weiberjägerei der Juden« mit einem gewissen Stolze hervorgehoben.»Der Gedanke, daß die deutschen Leser seines Werkes sich darüber entrüsten könnten, daß Töchter ihres Volkes, und wenn es auch nur arme Dienstmädchen sind, hier als hilflose Beute frecher Juden gezeigt werden, scheint Hermann gar nicht gekommen zu sein.« 74 Ideologiekritische Überlegungen entgegengesetzter Art hat unlängst Franka Marquardt ang estellt. Im Wissen um den Holocaust könnten Georg Hermanns Romane nicht mehr unbefangen gelesen werden, da die Schicksale der Hauptakteure einerseits»nicht jüdisch genug« seien, die Darstellung ostjüdischer Nebenfiguren aber vielfach anstößig wirken müsse. 75 Ob sich die nachlassende Rezeption im Kern auf diesen Faktor reduzieren läßt, darf jedoch bezweifelt werden. Unbestreitbar ist, dass sich Georg Hermanns Werk als sehr viel stärker zeitgebunden erwiesen hat als dasjenige von Fontane, obwohl die Welt, in der jeder von ihnen lebte und die ihre Weltsicht prägte, gleichermaßen versunken ist. Unbeschadet der Einsicht in die Ohnmacht des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Zwängen, wie sie am Schicksal seiner Romanfiguren deutlich wird, hatte sich Georg Hermann viel von dem charakteristischen Fortschrittsglauben der Reichsgründungsgeneration bewahrt. Diese Selbsttäuschung sollte nicht nur ihn das Leben kosten. Die Erinnerung an sein schreckliches Ende hat freilich nur begrenzt neues Interesse an seinen Werken erwecken können. Wertvolle Zeitz eugnisse bleiben sie aber allemal, und als Repräsentant und literarischer Apologet der nicht-zionistischen»Westjuden« deutscher Sprache wird Georg Hermann im kulturellen Gedächtnis fortleben.
Heft
(2020) 109
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